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Nur dieser eine Sommer

Nur dieser eine Sommer

Titel: Nur dieser eine Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Alice Monroe
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drückte, und plötzlich wich die Traurigkeit. So war der Kreislauf der Natur. Wie hieß es doch in der Bibel? Ein jegliches hat seine Zeit – Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit.
    Mittlerweile hatte die Schildkröte die Eiablage beendet und schob nun mit den Hinterbeinen Sand über das Gelege. Danach robbte sie im Kreis und schleuderte dabei wahllos gewaltige Sandfontänen umher, als wolle sie die Stelle tarnen, an der ihr Schatz vergraben lag. Lovie und Cara wichen ein wenig zurück, um dem Tier genügend Platz zu lassen, sein Werk abzuschließen, ehe es ins Meer zurückkroch.
    Mit einigem Abstand, wie eine Ehrenwache, folgten die beiden stumm dem völlig erschöpften Tier, das sich unter Aufbietung der letzten Kräfte vorwärts schleppte, wobei der Rand des Rückenpanzers über den Sand schabte. Oft hielt das Weibchen an und hob den Kopf, als wittere es schon das Meer. Je näher die Wellen rückten, desto energischer bewegte das Tier sich voran. Diese neue Energie, diese Erregung des Reptils – sie wirkten geradezu ansteckend.
    Lovie glaubte, die Erleichterung des Tieres wahrnehmen zu können, als es das Wasser erreichte. Eine Welle fegte die Sandschicht vom rötlichbraunen Panzer, und er schimmerte im Mondlicht wie eine prächtige Ritterrüstung.
    „Jetzt hast du’s geschafft“, flüsterte Cara der Schildkröte zu. Den ganzen Weg bis zur Wasserlinie, jeden einzelnen quälenden Schritt, waren sie hinter ihr hergelaufen. Nun mussten sie zurückbleiben.
    Wuchtig strebte das Tier voran, und sobald es den Auftrieb des Wassers spürte, begannen die kräftigen Beine zu rudern. In diesem wunderbaren Augenblick schüttelte es die irdische Last ab; ein schwerfälliges, plumpes Ungetüm verwandelte sich in ein Wesen von höchster Anmut und Eleganz. Ein letztes Mal reckte das Tier den Kopf, als wolle es Lebewohl sagen. Dann tauchte es in die Wogen und verschwand.
    Lovie verspürte den unerklärlichen Drang, dem Tier zu folgen, hinein in jene unermessliche, unbekannte Tiefe. Weit dort draußen, unter der Oberfläche, wartete eine weite, eine andere Welt, eine Welt voller Zauber und Schönheit. Wie entrückt betrachtete Lovie die schimmernde Bahn, die das Mondlicht aufs Meer warf.
    „Mama! Komm zurück! Geh nicht so weit rein!“
    Lovie blinzelte verwirrt und blickte an sich hinab. Das Wasser reichte ihr bereits bis zu den Knien.
    „Na, so was! Ich hab nichts gemerkt, so sehr war ich von dem Schauspiel gebannt! Aber nun ist sie fort!“
    „Nimm meine Hand!“
    „War sie nicht wunderschön?“
    „Atemberaubend schön! Geradezu zauberhaft. Nie hätte ich das für möglich gehalten!“
    „Ich hab’s ja schon oft beobachtet“, sagte Lovie, als sie wieder den Strand erreicht hatte, „aber es ist jedes Mal so, als sähe ich es zum ersten Mal!“
    „Wie es wohl sein mag da draußen?“ fragte Cara versonnen. Sie stand direkt am Wasser, hatte die Arme um den Leib geschlungen und blickte in die Ferne. „Schau nur, wie unendlich weit das Meer ist! Und dann einfach so unterzutauchen … Kann man sich kaum vorstellen!“
    „Es ist ein wenig wie Sterben, glaube ich. Man möchte der Schildkröte folgen, man ist neugierig, aber zuvor muss man die unsichtbare, flüchtige Grenze überwinden, die diese und jene Welt voneinander trennt. Man bräuchte gar nicht viel – ein rascher Tod, das wäre alles! Ein Schritt, ein letzter Atemzug, und schon schwebt man davon!“
    „Na, vielen Dank, auf diese letzte Reise will ich aber noch nicht gehen. Für heute langt es, wenn wir den Weg nach Hause finden.“ Cara wandte sich um und lief den Strand hinauf.
    „Cara?“
    Cara blieb stehen und drehte sich um.
    „Ich werde mich bald auf diese Reise begeben.“
    Caras Züge erstarrten. „Wie bitte?“
    „Ich habe Krebs. Ich weiß, es hört sich dramatisch an, aber ich habe keine Ahnung, wie ich’s dir schonender beibringen soll. Also, nun ist es heraus!“
    Abertausende von Gefühlen jagten durch Caras Körper. „Nein!“ rief sie dann, trat einen Schritt nach vorn, hielt abrupt an und schüttelte verwirrt den Kopf. „Krebs? Und welcher?“
    „Lungenkrebs.“
    „Aber du rauchst doch seit Jahren nicht mehr!“
    „Dasselbe hab ich auch gesagt, als ich die Diagnose erfuhr. Doch da war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Mittlerweile habe ich bereits eine Strahlentherapie hinter mir.“ Lovie hörte, wie Cara keuchend einatmete. „Dadurch wird mir ein bisschen Aufschub gewährt.“
    „Wie lange weißt du es

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