Nur dieser eine Sommer
verstört die Augen auf.
„Ich bin’s! Aufwachen! Ich möchte dir etwas zeigen! Beeil dich!“
„Was ist los?“ murmelte Cara schlaftrunken und schaute sich verdattert um.
„Los, mach schon! Zieh dich an! Am Strand ist eine Schildkröte! Das darfst du nicht verpassen!“
„Mensch, Mama …“
Lovie ließ nicht eher locker, bis ihre schlaftrunkene Tochter in Jeans, T-Shirt und Sandalen geschlüpft war, und führte sie dann freudig erregt in die feuchtkühle Nacht hinaus. Hintereinander huschten Mutter und Tochter über den Pfad zum Strand. Lovie eilte zügig voraus, drehte sich kurz vor der Düne um und legte mahnend den Finger über die Lippen. Dann, auf allen vieren, krochen beide im Schneckentempo um den Sandhügel herum, bis sie den offenen Strand vor sich sahen.
Die Flut war ein wenig abgelaufen, und den weichen Sand durchfurchte eine lange, tiefe Schildkrötenspur von der Wasserlinie bis fast hinauf zum Fuß der Düne. Das Scharren des Reptils war in der nächtlichen Stille deutlich zu vernehmen. Lovie ließ ihren Blick an der Spur entlangwandern und entdeckte schließlich das Tier, ein prächtiges Exemplar! In großen Fontänen warf es beim Graben den Boden auf, sodass der Sand wie Konfetti ringsum herunterregnete.
Hinter sich hörte Lovie, wie Cara den Atem anhielt. Beide legten sich hinter einen kleinen Dünenvorsprung. Pausenlos werkelte die Schildkröte an ihrer Grube, wobei sie die paddelförmigen Hinterbeine abwechselnd zum Schaufeln und zum Wegräumen des Aushubs einsetzte, immer und immer wieder, fast eine Stunde lang. Schließlich verharrte sie regungslos, und tiefe Stille trat ein. Lovie gab ihrer Tochter ein Zeichen, und beide krochen nun näher heran. Es heißt, dass Schildkrötenweibchen bei der Eiablage in eine Art Trance verfallen und den Fluchtreflex so lange unterdrücken, bis das Werk vollbracht ist.
Der Wind hatte sich in der Zwischenzeit fast völlig gelegt. Das Mondlicht erhellte die Szene, die sich vor Cara und Lovie abspielte. In Lovie erwachte jene Erregung, die sie bei diesem Anblick stets verspürte. Niemand wusste, wann oder wo ein Loggerhead an Land kam. Deshalb konnte man es als besonderen Glücksfall betrachten, Zeuge eines solchen Ereignisses zu werden.
Welch göttlicher Fingerzeig, dachte Lovie, schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel für dieses kleine Wunder und musterte ihre Tochter. Cara kauerte vollkommen regungslos neben ihr und verfolgte das Geschehen mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes. Lovie lächelte in sich hinein. Es war schon richtig gewesen, sie aus dem Schlaf zu holen, denn ihre Tochter würde sich ihr Leben lang an diese Nacht erinnern, in der sie mit der Mutter die Eiablage der Karettschildkröte erlebt hatte, des Tieres, nach dem sie benannt worden war.
Schulter an Schulter beobachteten Mutter und Tochter während der folgenden Stunde das Reptil. Diesmal, so schien es Lovie, wirkte das Schweigen nicht trennend, sondern verbindend. Von Zeit zu Zeit schauten sie einander an und strahlten. Stocksteif verharrte das Kriechtier und ließ nacheinander über hundert kugelförmige Eier in den Sand plumpsen, wobei ihm Ströme von Tränen aus den Augen rannen.
Tränen einer Mutter, so kam es Lovie vor. Die Tränen der Pflicht, der Hingabe und Liebe. Die Tränen der Resignation und Ergebung. Und auch die Tränen des Abschieds. Denn die Schildkröte verließ ihr Nest nach der Eiablage, um nie wieder zurückzukehren.
Weine nicht, Mutter, hätte Lovie der Schildkröte gerne zugerufen. Müssen nicht alle Mütter früher oder später ihre Kleinen verlassen? Auch mir wird es bald so gehen. Auch ich werde nie zurückkehren.
All die Wissenschaftler, die jene Tränenströme als bloße Augenreinigung abtaten – was wussten sie schon? Als Frau brauchte man die Schildkrötentränen nur zu sehen, um instinktiv zu erkennen, dass das Weibchen um seine Jungen weinte. Die Mutter kannte die Räuber, die auf die Kleinen lauerten, die tückischen Strömungen, von denen sie abgetrieben wurden, die verwirrenden, gefährlichen Lichter, die Fangnetze, in denen sie sich verhedderten, die vielen, vielen einsamen Jahre im Meer. Sie trauerte, weil sie ihre Jungen nicht vor dem Schicksal bewahren konnte.
So stark war die mächtige Verbindung zwischen ihr und dem prächtigen Wesen da draußen, dass Lovie nun selbst die Tränen in die Augen schossen. Sie hatte das Gefühl, als wären sie gute Freundinnen, die sich einmal gemeinsam ausweinten.
Dann spürte sie, wie Cara ihre Hand
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