Nur dieser eine Sommer
Geräusch, das Cara bereits einige Male auch im Hause aufgefallen war und sie innerlich in Alarmbereitschaft versetzt hatte.
„Alles in Ordnung?“ fragte sie. „Hast du dich vielleicht erkältet?“
„Nein, nein, das liegt an der salzigen Luft und am Sand.“
„Na, da wär ich mir nicht so sicher. Tritt lieber ein wenig kürzer. Vielleicht solltest du dir diese Ausflüge ganz sparen!“
„Unsinn! Mir geht’s bestens! Der Arzt meint, Bewegung täte mir gut. Nun komm schon, sehen wir zu, dass wir die Spuren finden!“
Am Strand angekommen, fiel es ihnen nicht schwer, die breiten Abdrücke zu erkennen, die das Tier in dem glatten, unberührten Sand hinterlassen hatte. Sie führten von der Auflauflinie der Flut zu einer flachen Vertiefung. Unweit der Stelle klaffte ein riesiges, von Menschenhand gegrabenes Loch, vermutlich die Reste einer massiven Sandburg, die von der Brandung platt gewalzt worden war.
„Dummköpfe“, murmelte Lovie, als sie es aus der Nähe betrachtete. „Eine Sandburg ist ja gut und schön, aber so ein Riesenkrater – das ist doch die Höhe! Wissen die denn nicht, dass eine Schildkröte da vorbei muss? Sie hätte ganz leicht in das Loch geraten und in der Falle sitzen können!“
„Die haben beim Buddeln bestimmt keinen Gedanken an eine Schildkröte verschwendet“, erwiderte Cara und machte einen Schritt auf das Nest zu. „Es ist schließlich nicht jeder so ein Schildkrötenfanatiker wie du.“
„Schlimm genug! Die Meeresschildkröten kommen schon länger an diesen Strand als wir alle zusammen.“ Lovie nahm einen langen, unten angespitzten Holzpflock zur Hand und überreichte ihn Cara wie bei einer Übergabezeremonie. „Dies war mein Sondierstab. Jetzt vertraue ich ihn dir an. Er gilt als eine Art Ehrenzeichen im Team. Sei dir also deiner Verantwortung bewusst! Nur wenige sind ausersehen, ein Gelege zu überprüfen. Ich werde dir zeigen, wie man das macht. Gib also gut Acht!“
Mit in den Sand gezogenen Linien unterteilte sie die Umgebung der Gelegegrube in vier Teile. Am Beispiel des ersten Viertels lehrte sie Cara, wie man die richtige Körperhaltung einnimmt und den Sondierstab hält, bevor man ihn vorsichtig in den Sand gleiten lässt. Elegant tanzte ihre schmale kleine Hand Zoll für Zoll auf und nieder und schwebte wie eine Ballerina über der kleinen abgeteilten Fläche.
„Es kommt darauf an, dass man ihn nicht wuchtig wie mit einer Bohrmaschine hineindrückt, denn falls man auf die Bebrütungshöhle stoßen sollte, fährt die Sonde durch den weichen Sand wie ein Messer durch Butter. Zu grob darf man ebenfalls nicht stoßen, sonst kann ein Ei zerbrechen. Also, sachte und locker, etwa so!“ Sie führte die Bewegung betont langsam und sorgfältig aus. Als sie fertig war, schien sie etwas außer Atem. „Jetzt du!“
Cara ergriff den Stab. Mittlerweile war sie doch nervöser, als sie zugeben wollte. „Jetzt zahlen sich zumindest die Ballettstunden aus, die ich als Kind nehmen musste!“
„Gelernt ist gelernt“, meinte ihre Mutter.
Cara hielt die Sonde mit der Spitze nach unten genau mittig zwischen ihren Beinen, ging leicht in die Knie, balancierte ihr Körpergewicht aus und legte los. Bei jedem Stich in den Sand befürchtete sie, mit voller Wucht in ein Ei zu stoßen.
„Nicht so schnell!“ mahnte Lovie. „Immer mit der Ruhe! Wieso hast du’s dauernd so eilig?“
Cara holte tief Luft und setzte neu an.
„Alle Welt hat’s eilig“, stellte Lovie fest und ließ sich, nach Atem ringend, in den Sand sinken. „Immer nur schnell, schnell, schnell! Wohin rasen sie alle bloß? Das Leben ist doch kein Rennen! Früher oder später überqueren wir alle dieselbe Ziellinie. Wär’s nicht furchtbar, wenn man schon den Zielstrich sehen würde und sich wünschen müsste, man hätte es besser etwas gelassener angehen sollen und wäre nicht so gerast?“
„Vielleicht spricht man von der Menschenrasse, weil der Mensch rast!“
Ihre Mutter lachte. „Tja, an diesem Wettlauf nehmen wir alle teil. Doch dem Sieger winkt kein Preis. Also lass dir Zeit, Cara. Geh stetig und bedächtig vor, im Schildkrötentempo, aber sanft. So ist es besser. Jetzt aufgepasst! Wenn man in die Bruthöhle stößt, erwischt einen das immer unvorbereitet. Fast wie im richtigen Leben.“
Vorsichtig ging Cara ans Werk und dachte dabei an den Tai-Chi-Kurs, den sie einmal belegt hatte. Nach und nach fand sie ihren Rhythmus, tauchte den Stab ein, bis sie auf den Widerstand von festem Sand stieß,
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