Nur ein Augenblick des Gluecks Roman
öffnete, drehte sie sich zu Caroline um und sagte: »Wir müssen jetzt loslegen, Mom. Die Kinder sind ein bisschen knapp dran mit der Zeit. Fletcher hat eine Stunde bei seinem Mathe-Tutor, und Graham muss zum Fußballtraining.«
»Mathe-Tutor, Fußballtraining … Gott im Himmel, Liss. Du bist so ein Vorstadt-Klischee«, stellte Julie fest, während sie mit energischen Schritten das Haus betrat; ihre Haare waren herrlich wild und blauschwarz gefärbt; ihre Arme voll mit goldfarbenen Take-Away-Tüten eines Restaurants in Beverly Hills. Julie reichte Lissa einige der Tüten und warf einen Handkuss in Carolines Richtung. »Hey, Mom, wie geht’s?«
Bevor Caroline antworten konnte, hatten sich Julie und Lissa auch schon an ihr vorbeigeschoben. Eilig liefen sie den Flur hinunter und lachten über einen Witz, den ihre Mutter nicht mitbekommen hatte.
Die Feier, die die Mädchen für Robert ausrichteten, war prächtig. Im Mittelpunkt stand eine improvisierte Tafel unter der Eiche im Garten. Lissa flocht breite Streifen gelber Bänder in die Zweige des Baums und deckte den Tisch mit marineblauen Leinenservietten und einer sonnenblumengelben Tischdecke, die sie vor zwei Jahren in der Provence entdeckt hatte.
Aus Julies goldfarbenen Einkaufstüten kamen Nudeln mit Zitronensauce, pochierter Lachs, gebratene Cherry-Tomaten
und papierdünne Scheiben eines getoasteten, duftenden Roggenbrots, das mit Olivenöl beträufelt war und eine Kruste aus köstlichem alten Käse hatte.
Lissa, ihr Mann Harrison und ihre drei Jungen ließen Robert hochleben. Julie hatte ihr Champagnerglas erhoben und sagte: »Auf Dad! Unseren Helden!«
Fletcher, Lissas zwölfjähriger Sohn, stieß Caroline verstohlen an. »Heb dein Glas, Grandma. Wir bringen unseren Toast aus.« Fletcher war sanft und schön, wie manche Jungen mit zwölf es sein können. Seine Augen strahlten. Seine Haut war blass und rein, mit Andeutungen eines rötlichen Flaums auf den Rundungen seiner Wangen. Etwas an Fletcher erinnerte Caroline sehr daran, wie Lissa in seinem Alter gewesen war, und wie Justin hätte sein können. Fletchers Anblick löste in Caroline eine starke Sehnsucht nach Justin aus; sie fragte sich, wie er mit zwölf ausgesehen hatte. Und mit 16. Und mit 21.
Als man ihr Justin genommen hatte, war der Schmerz über seinen Verlust unerträglich gewesen. Sie war in ihren Schuldgefühlen beinahe ertrunken und an den Rand des Selbstmords geraten. Während die Jahre verstrichen, hatten der Schmerz und die Schuldgefühle niemals abgenommen. Aber in langsamen Schritten waren sie durch die Bedürfnisse ihrer beiden übrig gebliebenen Kinder und durch die Dynamik des Alltagslebens in eine weniger sichtbare Form gezwängt worden. Durch aufgeschlagene Knie und Überhören des Weckers und Zahnspangen und erste Verabredungen.
Durch den Tod ihrer Mutter und die Geburt von Enkeln. Durch eine Mammografie und eine Biopsie und den Verlust einen Teils dessen, was Caroline immer als Frau definiert hatte.
In den ersten Tagen und Wochen nach Justins Verschwinden
war Caroline von der Sehnsucht, ihn zurückzuhaben, beinahe aufgefressen worden. Ständig hatte sie an die Fotos und die Geburtsurkunde gedacht, die sie an die Anwaltskanzlei in Connecticut geschickt hatte, von der Robert behauptete, er habe Justin dort abgegeben; sie war davon überzeugt gewesen, dass ihr Päckchen jedem beweisen würde, dass man ihr den Sohn gestohlen hatte. Sie hatte gehofft, es könnte seine Adoptivfamilie dazu veranlassen, ihn zurückzuschicken.
Als sie keine Antwort erhielt, hatte sich Caroline auf verzweifelte Anrufe verlegt. Nun erst war ihr klar geworden, dass das Gesetz und diejenigen, die darüber zu wachen hatten, ihren Sohn für immer ihrem Zugriff entzogen hatten. Und so begann sie, ihn auf die einzige Art zu bemuttern, die ihr noch möglich war: indem sie sich das schöne und sichere Leben vorstellte, das er jeden Tag genoss; indem sie zu glauben begann, dass das Ausmaß an Leidenschaft, mit dem er aus der Lima Street verbannt worden war, ausgeglichen und sogar übertroffen wurde durch die Leidenschaft, mit der man sich irgendwo in Neuengland um ihn sorgte.
Inzwischen, nach mehr als 30 Jahren voller Verluste und Geburten und Todesfälle und Träumereien, hatte Caroline ihren Schmerz so weit bezähmt, dass sie nicht von ihm vernichtet wurde.
Wieder drangen Hurrarufe aus den Kehlen ihrer Töchter und ihrer Enkel, und sie hörte Robert rufen: »Caroline, das ist für dich!« Mit einer
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