Nur ein Augenblick des Gluecks Roman
entfernt.
Und immer noch lief er.
Als er gerade die Main Street erreichte, bog ein Auto plötzlich links ab. Er war im Licht der Scheinwerfer gefangen und hörte, wie eine Frau nach ihm rief. Sie klang locker und vergnügt, wie jemand, der gerade von einer Party kam. »T. J.! Ich bin’s, Kati.«
Die Stimme kam ihm merkwürdig vertraut vor. Er wandte den Kopf der Frau zu, und ihre Blicke trafen sich. »Ich bin’s. Kati, deine alte Babysitterin«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
Ein emotionaler Schauer durchlief ihn, wie bei jemandem, den er hätte kennen müssen. Kurz verspürte er den Impuls, etwas zu ihr zu sagen. Doch stattdessen lief er weiter, denn sie hatte ihn T. J. genannt, und so hieß er nicht.
Sein Name kreiste durch seinen Kopf wie ein Lied. »Mein Name, der ist Justin. Ich kenne meinen Namen. Aber ja, aber ja.«
Es war nicht mehr T. J., sondern Justin, der mit einem Seesack in der Hand und einem Spiralheft im Hosenbund durch das mitternächtliche Dunkel lief.
Die Verwirrung, die Angst und die Einsamkeit, die T. J. ausmachten, und die Loudons, die Zelinskis, und Stans Blut in dem Durchgang - all das war von einer Vergangenheit aufgesaugt worden, die er nicht mehr sehen konnte.
Justin lief seiner eigenen Zukunft entgegen. Und damit, wie stets, dem Haus in der Lima Street.
CAROLINE
Sierra Madre, Kalifornien, Oktober 2004
D ie Sünden unserer Jugend und unserer reiferen Jahre. Die Sünden unserer Seele und unseres Körpers. Unsere spontanen Sünden. Unsere auf Unwissenheit gründenden Sünden. Die Sünden, die wir kennen und an die wir uns erinnern. Und die Sünden, die wir vergessen haben.Vergib sie, o Herr.Vergib sie alle.«
Der Geistliche ließ einen Moment der Stille einkehren. Dann sagte er: »Im Namen Jesu Christi: Euch ist vergeben.« Und von der versammelten Gemeinde schallte die Antwort zurück: »Ehre sei Gott! Amen.«
In einer der hinteren Kirchenbänke erhob sich Caroline abrupt und ging hinaus. Die Worte des Geistlichen hatten sie mit Bitterkeit erfüllt. An der Stelle ihrer Seele, an der Buße und Vergebung ihren Platz hätten finden können, hatte sich schon zu viel angesammelt. Dort herrschte bereits ein völliges Durcheinander.
Sie war verwirrt, von einer Unzahl von Dingen. Ganz oben stand das Gefühl, wie schnell die Zeit vergangen und wie schnell aus dem Anfang ein Ende geworden war; wie unvermittelt die Jugend mit dem Alter kollidiert und so viel Schönheit unwiederbringlich abhandengekommen war.
Die kleinen, so kostbaren Dinge, die verloren waren, ließen sich kaum zählen. Und während sich in Carolines Leben
eines nach dem anderen in Luft aufgelöst hatte, blieben sie doch fest in ihrer Erinnerung verankert. Immer noch konnte sie das Schlagen der Fliegengittertür hören und das blecherne Klappern von Thermoskannen, die gegen die Innenseiten leerer Lunchboxen rollten, und die hohen, aufgeregten Stimmen, die riefen: »Mommy, Mommy! Wir sind wieder da!« Immer noch nahm sie den einzigartigen Geruch wahr, der den Vierten Juli ausmachte: flüssiger Holzkohlenanzünder, gegrillte Hot Dogs und Feuerwerk im Garten. Immer noch konnte sie sich selbst spüren, wie sie einmal gewesen war - das Gewicht ihrer Haare, die lang und dicht über ihren Rücken fielen; die Textur ihrer Haut, so weich wie Kaschmirwolle; die Form ihres Körpers, als er noch geschmeidig war und begehrt wurde. Es waren Erinnerungen an Dinge, die sie einst besessen hatte, ohne dass sie hätte ermessen können, welchen Genuss sie bereiteten und wie vergänglich sie sein würden.
Caroline war inzwischen in ihren Sechzigern. Die Zeit hatte ihre Bewegungen verlangsamt und Furchen in ihr schönes Gesicht gegraben; die Zeit hatte ihr die Mädchen weggenommen und sie in eigenständige und unabhängige Frauen verwandelt, deren Aufmerksamkeit und Liebe jetzt ihren eigenen Freunden, Ehemännern und Kindern galt.
Auf ihrem Spaziergang von der Kirche zum Haus in der Lima Street verspürte Caroline den Impuls, zu weinen - wegen all der Sünden, die sie in ihrer Jugend und Unwissenheit begangen hatte. Noch stärker allerdings war das Bedürfnis, Gott zu verfluchen. Sie wollte ihn verfluchen, weil er sie nicht von diesen Sünden abgehalten hatte; weil er zugelassen hatte, dass sie in die Mutterrolle - und in die Frauenrolle - so völlig wehrlos, dumm und unvorbereitet hineingestolpert war.
Allem voran hatte sie Gott verfluchen wollen wegen Justins
Abwesenheit. Doch dieser Fluch blieb ihr jedes Mal im Hals stecken, bevor
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