Nur ein Blick von dir
Blick wich meinem immer wieder aus, und das verriet sie. Sie glaubte, ich wäre verrückt.
»Okay, ich weiß, dass es irre klingt. Und in gewisser Weise ist es auch irre, und als ich es das erste Mal entdeckt habe, dachte ich, dass ich den Verstand verliere. Aber es ist alles wahr.« Graces Gesicht war höflich ermutigend. Sie lehnte sich wieder im Futon zurück und kämpfte gegen den Reflex, die Arme zu verschränken. Wie konnte ich sie nur überzeugen?
»Erinnerst du dich, wie wir mit der Kunst- AG in
St. Paul’s
waren?«
»Ja«, sagte sie fragend.
»Erinnerst du dich, dass ich gesagt hab, ich hätte einen Geist gesehen?«
»Ja!« Sie beugte sich wieder vor und wollte überzeugt werden.
»Also, da hab ich ihn zum ersten Mal gesehen, und
St. Paul’s
ist auch der einzige Ort, an dem ich ihn richtig sehen kann.«
»Und was ist in der übrigen Zeit geschehen?«
»Ich kann ihn in jedem Spiegel sehen, und ich kann ihn hören, wenn sein Amulett – oder Armreif – denselben Raum einnimmt wie meines. Sein Amulett ist völlig identisch mit dem, das ich hab oder besser hatte.« Meine Stimme kam wieder ins Stocken, als ich an meinen Verlust dachte. »Ohne das Amulett ist er … nirgends. Ich kann ihn nicht sehen und nicht mit ihm sprechen.«
»Und was hat Catherine mit alldem zu tun? Warum hat sie es gestohlen? Was weiß sie von Callum?«
Wo sollte ich anfangen? Ich schloss kurz die Augen und überlegte mir, wie ich es am besten formulieren konnte. »Callum ist nicht so ein durchschnittlicher Geist«, fing ich an, und über Graces Gesicht huschte kurz ein Anflug von Skepsis, den ich zu ignorieren versuchte. Ich sprach schnell weiter: »Alle, die im Fleet ertrinken, werden in so eine Art Vorhölle geworfen. Es sind Hunderte, und sie alle tragen ein Amulett, das sie nicht abnehmen können und das sie dazu bringt, bestimmte Dinge zu machen. Es gibt ein einziges Amulett, das sich – und ich verstehe nicht, warum – auf unserer Seite befindet, in der wirklichen Welt. Von Zeit zu Zeit taucht es in der Themse auf.«
»Der Armreif, den du aus dem Schlamm bei Twickenham gegraben hast«, bestätigte Grace nickend.
»Ja, und es stellt demjenigen, der es findet, eine Verbindung zu einem der Versunkenen her, und das …«
»Der was?«
»Oh, die Versunkenen. So nennen sie sich selbst. Sie leben in einer Art immerwährender Verzweiflung, ja, das trifft es am ehesten.«
Grace nickte wieder, stemmte die Ellbogen auf die Knie und stützte das Kinn in die Hände. »Ja, gut, ich wollte dich nicht unterbrechen.«
»Nein, das ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass das alles so seltsam klingt – eher wie eine Horrorstory.« Ich unterbrach kurz und schüttelte den Kopf. »Wo war ich? Ach ja. Als ich das Amulett ausgegraben hab, hat es eine Verbindung mit Callum hergestellt. In dieser Nacht hatte ich eine eigenartige Vision, aber als ich sie dir erzählen wollte, warst du schon eingeschlafen. Dann waren wir in
St. Paul’s
, und er war tatsächlich da! Ich weiß nicht, wer von uns überraschter war. Nachdem er nun wusste, wo er mich finden konnte, erschien er hinter mir im Spiegel. Das erste Mal war ein bisschen erschreckend – also es war sehr erschreckend –, und es brauchte ein paar Tage, bis er herausbekam, wie wir miteinander reden konnten, aber dann ging es. Seitdem haben wir immer miteinander geredet. Und wir haben uns ineinander verliebt.« Ich brach ab, um meinen Kummer in Schach zu halten. Grace nahm meine Hand und drückte sie sanft.
Ich schaute sie dankbar an und machte dann weiter. »Ich wusste nicht, dass die Versunkenen mein Amulett benutzen können, um ihrem entsetzlichen Leben zu entkommen. Wenn es jemand von dieser Seite hier trägt, es dann aber abnimmt und in der Nähe hat, kann er von einem Versunkenen gefunden, angegriffen und aller seiner Erinnerungen beraubt werden. Wenn das passiert, stirbst du, der Versunkene aber kann die Erinnerungen verwenden, um seiner Hölle zu entkommen. Wir dachten immer, er würde richtig sterben, doch es hat sich herausgestellt, dass er die Chance hat, ins Leben zurückzukehren. Catherine war eine Versunkene und hat mir alle Erinnerungen geraubt und dich dabei beinahe auch umgebracht.«
Grace versuchte offensichtlich, aus all diesen Informationen schlau zu werden. »War es das, was in den Gärten von Kew passiert ist?«, fragte sie und bemühte sich, den leichten Vorwurf nicht herausklingen zu lassen.
»Ja. Die Geschichte ist eigentlich viel länger, aber wichtig
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