Nur ein Blick von dir
auf, auch wenn sie es zu unterdrücken versuchte.
»Ich will nicht sagen, ich habe dich gewarnt«, meinte Yvonne. »Ich habe gestern den ganzen Abend gehofft, dass sie wirklich kommt. Bis ich gegangen bin. Da war es immerhin schon nach Mitternacht.«
»Ich weiß«, flüsterte Silke. »Aber sie hat gesagt, spätestens zum Frühstück.«
»Die Zeit ist aber nun auch vorbei«, stellte Yvonne fest.
Silke versuchte sich zu fassen. Yvonne erzählte ihr nichts Neues. Sie löste sich von der Wand und strich ihren Rock glatt, fuhr sich durch die Haare. Dann öffnete sie die Tür.
»Komm her«, sagte Yvonne, als sie heraustrat, und öffnete ihre Arme.
Silke fühlte die Tränen erneut kommen und flüchtete sich in Yvonnes Umarmung. »Warum?«, schluchzte sie an ihrem Hals.
»Das weiß ich nicht«, sagte Yvonne. »Denk nicht darüber nach.«
»Ich habe die ganze Nacht wachgelegen«, flüsterte Silke. »Keine Minute geschlafen. Bei jedem Geräusch dachte ich, sie ist es.«
»Ich weiß, ich weiß.« Yvonne klopfte sanft ihren Rücken. »Und sie hat nicht angerufen?«
»Nein«, schniefte Silke. »Kein Anruf, keine SMS, kein Zettel im Briefkasten – gar nichts.«
Yvonne sagte nichts, sondern hielt sie nur fest.
»Sag’s schon«, stieß Silke nach einer Weile trotzig hervor. »Sag, dass ich dumm bin, dass ich auf dich hätte hören sollen. Dass du es mir gleich gesagt hast.« Sie löste sich von Yvonne und schaute sie an.
Yvonne schüttelte den Kopf. »Das nützt doch jetzt auch nichts mehr.«
»Es ist nur ein Tag«, fuhr Silke mit verzweifelter Hoffnung fort. »Sie hat dieses alte Wohnmobil . . . sie kann liegengeblieben sein.«
»Ja.« Yvonne nickte. »Sie kann liegengeblieben sein.«
»Sie könnte heute noch kommen. Oder morgen.« Silke versuchte sich an diesem Gedanken festzuhalten.
»Ja, sie könnte noch kommen.« Yvonne nickte wieder, aber es war deutlich zu erkennen, dass sie nicht daran glaubte.
»Ich habe sie angerufen«, sagte Silke. »Sie nimmt nicht ab. Teilnehmer nicht erreichbar bekomme ich immer nur zu hören.«
»Funkloch«, sagte Yvonne.
»Ja, das habe ich auch gedacht.« Silke ging zum Waschbecken. »Ach du lieber Himmel! Wie ich aussehe!«
»Nichts, was ein bisschen Schminke nicht verstecken könnte«, sagte Yvonne. »So schlimm ist es auch wieder nicht.«
»Doch, ist es.« Silke stützte sich mit beiden Händen aufs Waschbecken, als könnte sie allein nicht mehr stehen. »Ich sehe genauso aus, wie ich mich fühle – und ich fühle mich furchtbar.«
Yvonne strich ihr beruhigend über den Rücken. »Warum nimmst du dir heute nicht frei?«
Silke lachte trocken auf. »Das wäre ja noch schlimmer! Dann lenken mich nicht mal mehr keifende Kunden von meinen Gedanken ab.« Sie schloss die Augen. »Ich habe ihr gesagt, dass ich sie liebe«, fügte sie nach einer Weile sehr leise hinzu. »Vielleicht kommt sie deshalb nicht mehr.«
»Okay?« Yvonne lehnte sich rückwärts gegen das Waschbecken neben Silke. »Reagiert sie so allergisch auf Liebe?«
»Ich weiß es nicht.« Silke zuckte hoffnungslos mit den Schultern. »Ich weiß eigentlich gar nichts von ihr. Ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen. Wir haben uns immer nur bei mir getroffen. Ich habe ihre Handynummer – das ist alles. Und dass sie mir erzählt hat, dass sie Sozialpädagogin ist. Aber ich weiß nicht, wo sie arbeitet, was sie tut, wen sie kennt und wer sie kennt. Wo sie wohnt.«
»Das ist wirklich wenig«, gab Yvonne zu. »Aber ihr kennt euch natürlich auch noch nicht lange.«
Silke legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. »Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Als ob sie immer dagewesen wäre.«
»War sie aber nicht«, unterbrach Yvonne Silkes sehnsuchtsvolles Seufzen. »Sie war nur eine kurze Zeit da. Eine sehr kurze. Das musst du dir immer wieder sagen.«
»Dann glaubst du also, dass sie nicht wiederkommt?« Silke schaute Yvonne an, die nicht antwortete. »Du glaubst es.« Sie atmete aus. »Du glaubst, das war’s.«
»Das tust du doch auch«, sagte Yvonne. »Warum regst du dich sonst so auf?«
»Ja.« Silke beugte sich über das Waschbecken und drehte den Hahn auf. Sie spülte sich kaltes Wasser ins Gesicht. »Warum rege ich mich so auf?«, wiederholte sie, als sie sich das Gesicht abtrocknete. Dann schaute sie in den Spiegel. »Jetzt muss ich aber noch etwas Restauration betreiben. Bringst du mir meine Tasche?«
21.
D ie nächsten Tage verliefen völlig ereignislos. Marina tauchte nicht auf und
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