Nur ein Blick von dir
zum Hals, eine Kälte durchzog ihre Gliedmaßen, die sie erstarren ließ. Dieser Kerl vor ihr wurde immer bedrohlicher. Vermutlich konnte er ihr mit einem einzigen Schlag das Genick brechen. Dagegen erschien Gaby wie ein harmloses Kleinkind.
Er umfasste mit einer Hand schmerzhaft ihr Kinn und hob es zu sich an. »Spuck’s aus, oder ich ziehe andere Saiten auf. Sie hat was, was uns gehört, und das wollen wir wiederhaben. Wenn sie das Zeug nicht rausrückt, wird sie’s bereuen, sag ihr das.«
»Bitte . . .« Silke konnte die Worte kaum formen, weil er ihr Kinn so zusammenpresste. »Sie tun mir weh.«
»Ich werde dir noch viel mehr weh tun, und ihr auch, wenn wir nicht kriegen, was wir wollen«, drohte der Kerl. »Sie steckt genauso in der Sache drin wie wir. Es ist unsere Kohle, um die es geht. Wenn sie uns das vermasselt, ist sie fällig. Dann wird ihr das Gefängnis, in dem sie war, wie ein Kindergarten vorkommen.«
Er ließ sie los. »Sie kommt bestimmt wieder her«, fuhr er kalt fort. »Wenn ihr was dran liegt, dich noch mal abzuknutschen, sollte sie schnell entscheiden, was sie tut.« Er grinste auf einmal bösartig. »Wir können uns auch was Schönes für dich ausdenken, wenn sie sich nicht entscheiden kann.« Er fuhr mit der Hand über Silkes Wange. Die Innenfläche war rau und rieb wie grobkörniges Sandpapier über ihre Haut. »Wär doch schade um das hübsche Gesicht«, schloss er. »Daran liegt ihr bestimmt was.«
Silke schluckte schwer. »Sie . . . äh . . . kommen Sie wegen Gaby?« Hatte Gaby sich jetzt endgültig entschlossen, ihre gewalttätigen Instinkte in der Unterwelt auszuleben?
»Hat sie sich bei dir so genannt?« Er grinste wieder. »Bei uns heißt sie anders. Aber macht nichts. Sie hat viele Namen. Ich hab euch beobachtet. Vor kurzem war sie noch jeden Tag hier. Hat treu und brav in der Pizzeria gesessen, dich nach Hause gebracht, ist bei dir ein und aus gegangen . . . Erzähl mir nicht, du weißt nicht, wo sie ist.«
Marina. Silke konnte es nicht glauben. Gaby hätte sie alles zugetraut, was in Richtung Gemeinheit ging, aber Marina? »Sie müssen sich irren«, stammelte sie konfus.
»Hör auf mit dem Scheiß, Puppe.« Er bohrte seine Augen in ihre. »Sag ihr nur Bescheid. Wir warten nicht ewig.« Er drehte sich um und war schneller den Gang hinunter verschwunden, als Silke ihm das bei seiner massigen Gestalt zugetraut hätte.
Sie musste sich erst einmal setzen. Sie ließ sich einfach auf den Boden plumpsen. War das gerade ein böser Traum gewesen? Die Einleitung zu einem Horrorfilm? Das konnte doch nicht wahr sein.
Er hatte behauptet, Marina wäre im Gefängnis gewesen, hätte sich an irgendeiner, wahrscheinlich nicht nur einer, offensichtlich kriminellen Sache beteiligt. In der sie immer noch steckte. Und wegen der sie . . . verschwunden war?
Plötzlich schoss Silke dieser Gedanke durch den Kopf. Das würde vieles erklären. Warum Marina sich nicht gemeldet hatte, warum sie nicht erreichbar war, warum Silke nichts von ihr wusste.
»Sie ist eine Kriminelle. Marina ist eine Kriminelle.« Silke sprach es laut aus, aber dadurch wurde es für sie nicht verständlicher. Ihre liebevolle, zärtliche, fürsorgliche Marina eine Verbrecherin?
Deshalb hat sie so viele Muskeln. Deshalb ist sie so gut trainiert und trägt mich mit Leichtigkeit die Treppe hoch, bildeten sich die Gedanken in ihr. Auf einmal fügte sich alles wie Puzzleteile zusammen. Nur dass das Bild, das sich ergab, nicht besonders schön war.
Sie blieb eine Weile sitzen und wunderte sich darüber, wie ruhig sie war. Doch dann begriff sie, dass sich auf einmal alles geändert hatte. Marina hatte sie nicht verlassen. Es war nicht Silkes Schuld, dass sie nicht mehr aufgetaucht war. Sie hatte nichts falsch gemacht.
Marina hatte irgendetwas angestellt, das nichts mit Silke zu tun hatte, und das hatte sie gezwungen, nicht mehr wiederzukommen. Sie war geflohen, abgetaucht, was auch immer, aber jedenfalls hatte diese Entscheidung nichts mit Silke zu tun oder ihrer Beziehung.
Beziehung. Silke überlegte, ob es das war, eine Beziehung. Vielleicht war es für Marina ja nur eine unverbindliche Affäre. Sie war nicht der Beziehungstyp.
Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, dachte Silke und rappelte sich auf. Ich muss zu Peter. Wenn ich mich nicht um die Sache kümmere, bricht da alles zusammen.
Sie hatte Zeit genug, über Marina nachzudenken, während sie dort war.
23.
N achdem der erste Ansturm vorbei war,
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