Nur ein einziger Kuss, Mylord?
Erkenntnis versetzte ihm einen Schock.
Wo zur Hölle blieben seine Geschwister?
Gelächter und Hufschläge waren zu hören, und einen Moment darauf kamen sie in Sicht. Die kleine Gruppe hatte sich um zwei junge Gentlemen erweitert.
Julian erkannte sie schon von Weitem. Es waren Harry Daventry und Ned Postleton, der Sohn des Squire. Sie ritten zu beiden Seiten Lissys, so sehr um ihre Aufmerksamkeit wetteifernd, dass sie ihn und Miss Daventry nicht bemerkten.
Doch dann wandte Lissy sich zu Daventry, sagte etwas und deutete mit ihrer Reitgerte nach vorn. Harrys Blick folgte der Geste, und selbst aus der Entfernung war die Bestürzung in seinem Gesicht nicht zu übersehen. Lissy sagte noch etwas, woraufhin ein Ausdruck von Härte in seine Züge trat. Daventry starrte seine Schwester an, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte auf sie zu. Als er das Tier vor ihr zum Stehen brachte, war seine Miene finster. „Guten Tag, Mylord“, begrüßte er Braybrook.
„Guten Tag, Daventry“, grüßte Julian zurück. „Meiner Begleiterin brauche ich Sie nicht vorzustellen, nehme ich an.“
„Nein, Mylord, das ist nicht nötig“, antwortete der junge Mann und biss die Zähne zusammen. Dann wandte er sich an seine Schwester. „Was soll das? Was tust du hier? Wieso bist du nicht in Bristol?“ Er machte keinerlei Hehl aus seinem Ärger, wie Julian mit wachsendem Zorn feststellte. Gleichgültig, wie überrascht der junge Flegel ist, er hat kein Recht, so unhöflich mit seiner Schwester umzuspringen, dachte er und wartete gespannt auf Miss Daventrys vernichtende Erwiderung.
„Hast du mein Schreiben nicht erhalten?“, fragte sie stattdessen unsicher. „Ich habe es letzte Woche abgeschickt, sobald ich wusste, dass ich hierherkommen würde. Es hätte dich eigentlich längst erreichen müssen …“
Daventry schoss die Röte ins Gesicht. „Ich … stimmt, gestern kam ein Brief.“ Die Röte vertiefte sich. „Ich war sehr beschäftigt. Sir John hatte eine Menge Arbeit für mich.“
Ein kaum wahrnehmbares Zögern, dann sagte Miss Daventry: „Natürlich.“ In ihrer Stimme lag nicht der geringste Vorwurf, keine Spur von Gekränktheit. Julian warf ihr einen Blick zu. Sie hatte die Lippen zusammengepresst – fester und beherrschter als gewöhnlich. Als müsse sie eine ganze Flut von Worten zurückhalten.
„Dann ist dieses Zusammentreffen zweifellos eine angenehme Überraschung für Sie, Daventry“, schaltete er sich ein und versuchte sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. Dass der junge Flegel es nicht für nötig befunden hatte, den Brief seiner Schwester zu öffnen, ging ihn schließlich nichts an.
„Sie sagen es, Mylord“, erwiderte Daventry reserviert. „Ich würde gern unter vier Augen mit meiner Schwester …“ Er unterbrach sich, um sein Pferd unter Kontrolle zu bringen, das unruhig zu tänzeln begann, als die restlichen Reiter herangaloppierten.
„Ist das nicht eine gelungene Überraschung, Mr. Daventry?“, rief Lissy ihm zu. „Ich habe die andern schwören lassen, dass sie Ihnen kein Sterbenswörtchen verraten! Miss Daventry ist Mamas neue Gesellschafterin und meine Gouvernante. Oh, übrigens, Miss Daventry, dies ist Mr. Postleton.“
Davy warf seiner Schwester einen finsteren Blick zu. „Sie ist auch meine Gouvernante! Sie unterrichtet mich in Französisch!“
Lissy ging darüber hinweg. „Und Mama sagt, wenn es ihr selbst nicht möglich ist, soll Miss Daventry mich als Anstandsdame begleiten. Also gehe ich davon aus, dass Sie Ihre Schwester von nun an häufiger sehen werden, Sir.“ Sie schenkte Harry ein strahlendes Lächeln.
Weder Mr. Daventry noch Mr. Postleton wirkten sonderlich erbaut von der Aussicht auf eine Chaperone, die sich – im Gegensatz zu Lady Braybrook – uneingeschränkter körperlicher Beweglichkeit erfreute.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Schwester haben, Daventry.“ Postleton ließ seinen Blick abschätzend über Christianas Figur gleiten und lüpfte den Hut. „Guten Tag, Madam.“ Julian straffte sich unwillkürlich.
„Guten Tag, Sir.“ Miss Daventry saß sehr aufrecht im Sattel und erwiderte den Gruß mit kühler Höflichkeit.
Aus einem ihm unerfindlichen Grund hatte Julian mit einem Mal das Bedürfnis, sie vor Postletons Aufmerksamkeiten zu schützen. Als er sein Pferd dichter neben ihres dirigierte, erschien ein wissendes Grinsen auf dem Gesicht des jungen Mannes.
„Sie geben eine ausgezeichnete Reiterin ab, wie ich sehe, Madam. Und gewiss nicht nur
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