Nur ein einziger Kuss, Mylord?
tun, als gäbe er klein bei, und ansonsten lediglich heimlicher vorgehen. Zu wissen, dass er fähig war, die Zuneigung eines jungen Mädchens so gezielt für sich zu nutzen, tat ihr in der Seele weh; es war schlimmer als alles andere. Wäre Harry wirklich in Alicia verliebt gewesen, hätte sie Verständnis für ihn gehabt. Aber er liebte das Mädchen nicht. Alicia war ein Mittel zum Zweck für ihn, und er hatte die Zuneigung Lord Braybrooks für seine Schwester gleich mit einberechnet.
Christiana trat unter der Galerie hervor und wandte sich zur Haupttreppe. Lady Braybrook und die Mädchen warteten sicher bereits; sie musste sich auf ihre Aufgaben konzentrieren. Darauf, Alicia die Augen zu öffnen, sie nicht nur mit den beengten Verhältnissen konfrontieren, denen sie ausgesetzt sein würde, wenn sie Harry heiratete, sondern auch mit der bitteren Wahrheit, dass Harry sie nicht liebte.
„Miss Daventry?“
Sie fuhr zusammen und wirbelte herum. Lord Braybrook erhob sich aus einem der Sessel an der gegenüberliegenden Wand.
„Verzeihung, Mylord, ich hatte Sie nicht gesehen. Haben Sie nach mir gesucht?“
Er kam auf sie zu und runzelte die Stirn. „Bedrückt Sie etwas?“ In seiner Stimme lag keinerlei Misstrauen, nur Sorge.
Christiana spürte, wie sie innerlich zu beben begann, vor Schreck darüber, dass er ihre Gedanken und Gefühle so leicht lesen zu können schien.
„Nein, natürlich nicht, Sir!“, antwortete sie eine Spur zu schnell und zwang sich zu einem strahlenden Lächeln. „Was sollte mich bedrücken? Entschuldigen Sie mich, Mylord. Meine Pflichten rufen.“
„Hatten Sie Streit mit Ihrem Bruder? Ich sah, wie Daventry mit Ihnen zu den Stallungen ging.“
Ihr Lächeln gefror. „Die Sache hatte nichts mit Ihnen zu tun, Mylord“, erklärte sie so kühl wie möglich. Eine unverschämte Lüge. Ihre Auseinandersetzung mit Harry ging Braybrook sehr wohl etwas an. Sollte sie ihm einfach alles erzählen? Es hinter sich bringen?
Plötzlich streckte er die Hand aus und strich mit dem Finger federleicht über ihre Nasenwurzel. Die Berührung durchfuhr sie wie ein Blitzschlag. Dann legte er die Fingerspitze sacht auf ihre Unterlippe und zeichnete gedankenversunken deren Umriss nach.
Für einen Moment stand Christiana da wie erstarrt, unfähig, sich dem Sturm von Empfindungen zu entziehen, der in ihr tobte. Schließlich trat sie einen Schritt zurück. Senkte die Lider. Zwang sich, den Blick nicht von dem hellen Fleck zu nehmen, den das Sonnenlicht auf den Perserteppich unter ihren Füßen malte. „Kann ich mich nun zu Ihrer Ladyschaft begeben, Mylord?“
Braybrook ließ die Hand sinken. „Selbstverständlich.“ Er drehte sich um und ging eilig davon.
Ein Zittern überlief sie, als er durch eine Tür am Ende der Halle verschwand. Wieso hatte er das getan? Schlimmer noch – wieso fühlte sie sich, als flatterten Tausende von Schmetterlingen in ihrem Magen herum? Und nicht nur in ihrem Magen, ihr ganzer Körper schien bei der Erinnerung an seine Berührung zu summen.
Sein Ruf. Er ist ein Lebemann!
Sie war zu keinem klaren Gedanken fähig. Und es lag nicht nur an seiner Berührung … er war besorgt gewesen um sie. Er hatte ihre Niedergeschlagenheit bemerkt. Und wenn es etwas gab, das sie in Versuchung zu führen vermochte, dann war es das.
Sie hatte nicht das Gefühl, ihm misstrauen zu müssen, sondern sich selbst. Der leisen Stimme in ihrem Innern, die ihr zuflüsterte, dass er sie wirklich gesehen hatte. Sogar ihren Kummer. Beinahe so, als ob sie ihm wichtig sei. Aber das zu glauben konnte sie nicht riskieren. Nicht dazuzugehören mochte sich mitunter trübsinnig anfühlen, aber sie tat entschieden besser daran, sich immer vor Augen zu halten, dass in seinen Kreisen kein Platz für sie war.
Er würde Miss Daventry aus dem Weg gehen. Er konnte nicht riskieren, ihr zu begegnen, wenn sie allein war. Genauso wenig, wie er sich erlauben konnte, sich Gedanken darüber zu machen, was die steile Falte zwischen ihren Brauen oder den besorgten Ausdruck in ihren Augen ausgelöst hatte. All das ging ihn nichts an.
Aber seine guten Vorsätze halfen ihm nicht im Geringsten, als Miss Daventry am nächsten Morgen nicht am Frühstückstisch erschien.
Julian schnitt sich eine zweite Portion Schinken ab, schenkte sich noch etwas Kaffee ein und starrte auf den leeren Platz. War sie krank? Und wieso machte er sich Gedanken darüber? Er musste wahnsinnig gewesen sein, als er sie gestern berührt hatte – wie konnte
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