Nur ein einziger Kuss, Mylord?
denken, dass es sie amüsiert zu erfahren, dass ich Sie getroffen habe, Miss Postleton, werde ich es selbstverständlich erwähnen. Einen schönen Tag noch.“
Als die Tür unter heftigem Gebimmel der Ladenglocke hinter ihr ins Schloss gefallen war, stellte Christiana fest, dass sie vor Empörung zitterte. Sie trat auf den Gehweg und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass es sich bei dem Reiter, der sich auf der Hauptstraße näherte, um Lord Braybrook handelte. Ohne lange nachzudenken, wandte sie ihm den Rücken zu und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Sie hätte unverzüglich nach Amberley zurückkehren sollen, doch wenn er anhielt und sie ansprach – der Himmel mochte wissen, was sie ihm dann an den Kopf werfen würde. Ihre jahrelang eingeübte Selbstbeherrschung schien sie seit Neuestem schmählich im Stich zu lassen, und unter diesen Umständen tat sie besser daran, einer Begegnung mit Seiner Lordschaft aus dem Wege zu gehen.
Aber wieso regte die Behandlung, die Nan widerfahren war, sie dermaßen auf? Sie wusste doch aus eigener Erfahrung, wie die Dinge liefen, wusste, dass dergleichen ständig geschah, überall. Und wieso verspürte sie eine solche Enttäuschung? Hatte sie etwa erwartet, Braybrook würde seine illegitime Tochter zusammen mit seinen Geschwistern aufwachsen lassen? Lächerlich.
Plötzlich unterbrach lautes Gejohle ihre Überlegungen. Sie sah auf und entdeckte keine fünfzig Yards weiter vorn eine Horde Dorfjungen, die sich rempelnd und schubsend vor einer niedrigen Mauer drängten. Die Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe richtete sich offenbar auf etwas, das sich auf dem Boden befand. Ein junger Hund, dem sie einen Backstein an den Schwanz gebunden hatten? Eine Katze? Oder irgendein anderes schwächeres, hilfloses Wesen, das sie quälten?
„Willst dich wohl wichtig machen, hä?“, hörte sie einen der Jungen höhnisch sagen. „Dabei biste doch nur ’n Bastard, sagt mein Pa, und deine Mum is’ nix wie ’nem reichen Mann sein wohlfeiles Liebchen!“
„Abgelegt hat er sie, Bob“, grölte ein anderer Junge. „Pfeifen die Spatzen längst von den Dächern, dass er nix mehr von ihr wissen will. Hey! Gib das her!“
„Nein! Die gehören meiner Mum!“
Als sie die ängstliche Mädchenstimme erkannte, fing Christiana an zu laufen.
In kürzester Zeit hatte sie die Gruppe erreicht, packte den größten der Jungen bei der Schulter und wirbelte ihn zu sich herum. Vor Überraschung geriet er ins Straucheln und stieß gegen einen anderen Jungen.
„Hör sofort auf!“, befahl sie außer sich vor Zorn. Nan kauerte an der Wand, ihr Haar zerrauft, das Kleid verschmutzt. Sie blutete aus einer Wunde am Knie. Das Briefchen mit den Nadeln lag im Dreck.
Die Jungen wandten die Köpfe und beäugten Christiana verblüfft. Derjenige, den sie bei der Schulter gepackt hatte, wand sich aus ihrem Griff. „Wir ham gar nix Schlimmes gemacht“, erklärte er trotzig.
Christiana schob ihn zur Seite, hob das Nadelbriefchen auf und gab es Nan zurück. Dann drehte sie sich um und funkelte die Jungen an.
„War bloß ’n bisschen Spaß“, fuhr der Große fort. „Stimmt doch, Nan, oder?“ Die anderen Jungen begannen zu kichern.
Nan zögerte.
„Stimmt doch, Nan, oder?“, wiederholte der Große drohend.
„Ja.“ Nans Antwort war kaum mehr als ein Wispern.
„Da hör’n Sie’s.“ Triumphierend wandte der Große sich zu Christiana.
„Merkwürdiger Spaß, bei dem ein kleines Mädchen zum Weinen gebracht und verletzt wird“, ließ sich plötzlich eine tiefe Stimme vernehmen. Christiana und die Jungen wirbelten herum.
Lord Braybrook stand lässig neben seinem Pferd. Seine Miene war steinern, sein Mund eine schmale Linie.
Er sah Christiana an. „Ich danke Ihnen, Miss Daventry, dass Sie eingeschritten sind. Es ist bedauerlich, dass Sie es tun mussten, aber das werden diese Burschen hier ebenfalls finden, nachdem ich mit ihren Eltern geredet habe.“ Braybrook hatte die Stimme nicht erhoben, doch die Jungen warfen sich unbehagliche Blicke zu.
„Wie dem auch sei“, fuhr er fort, „ihr entschuldigt euch jetzt – und zwar einzeln – bei Miss Daventry und bei Nan.“
Unter dem unerbittlichen Blick der blauen Augen schlurften die Missetäter vorbei und murmelten ihre Entschuldigung.
Als der Letzte von ihnen sich entfernt hatte, beugte Seine Lordschaft sich zu Nan hinunter. „Darf ich mir den Kratzer mal ansehen?“, fragte er sanft.
Christiana war eigentümlich berührt von der Vorsicht,
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