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Nur ein Gerücht

Titel: Nur ein Gerücht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kornbichler
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hinaufgehen?«, fragte er sanft.
    Mit einem halbherzigen Nicken erhob ich mich.
    Franz Lehnert ging mir voraus. Zögernd folgte ich ihm eine Treppe hinauf und einen Flur entlang. Hier und da erkannte ich ein Möbelstück oder ein Bild, das einmal bei uns zu Hause gestanden oder gehangen hatte. Mein Vater hatte dieses Zuhause zerstört.
    Als sein Lebensgefährte einen Schritt zur Seite trat und mir den Blick auf den im Bett liegenden, schlafenden Mann freigab, blieb ich abrupt im Türrahmen stehen. Das Bild von meinem Vater, das ich zwanzig Jahre lang vor Augen gehabt hatte, war das eines energischen Mannes; der durch seinen Egoismus alles zerstört hatte. Das Bild, das sich mir hier bot, war das eines Menschen, der durch Krankheit zerstört worden war: bis auf die Knochen abgemagert, mit pergamentener Haut. Durch einen Infusionsschlauch tropfte Flüssigkeit in seinen linken Arm. Die Finger der rechten Hand lagen auf der Bettdecke und zuckten leicht.
    Durch das weit geöffnete Fenster drangen Vogelstimmen vom Garten herauf. Im Zimmer selbst war es fast still. Nur ganz schwach war das Atmen meines Vaters zu hören. Franz Lehnert stand regungslos da und betrachtete ihn.
    »Setzen Sie sich, Carla«, forderte er mich leise auf und deutete auf einen bequemen Lehnstuhl neben dem Bett.
    Abwehrend schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nur raus hier. Er kam auf mich zu, nahm mich am Arm und zog mich mit sanfter Bestimmtheit hinter sich her. Dann drückte er mich ebenso sanft, aber bestimmt in den Stuhl.
    Als ich gewahr wurde, dass er vorhatte, mich mit meinem Vater allein zu lassen, protestierte ich. »Bitte ... « Ich machte Anstalten, wieder aufzustehen.
    Im Gegensatz zu meiner Stimme war seine nur ein Flüstern. »Wenn Sie jetzt kneifen, ist es so, als würden Sie direkt vor einem Hindernis eine Vollbremsung einlegen.« Sein Blick war beschwörend. »Ich habe Ihnen beim Springen zugesehen. Eine solche Vollbremsung passt nicht zu Ihnen. «
    »Bei manchen Hindernissen ist sie sinnvoll. Bevor ich mir den Hals breche ... «
    »Es steht gar kein Hindernis vor Ihnen, Carla.. Das, was Sie glauben zu sehen, ist nur eine Fata Morgana.« Bevor ich etwas erwidern konnte, war er verschwunden.
    So nah neben diesem schlafenden Mann fühlte ich mich unwohl. Ich wünschte mich weit weg von diesem Ort, an dem es nach Krankheit und Tod roch. Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und die Treppe hinuntergerannt, hätte mich ins Auto gesetzt und versucht, diesen Anblick so schnell wie möglich zu vergessen.
    Ich bereute, hierher gekommen zu sein. Wann immer ich mir in all den Jahren eine Begegnung mit meinem Vater ausgemalt hatte, war er ein starkes Gegenüber gewesen, dem ich meine Wut und meine Enttäuschung ins Gesicht schreien konnte. In dieses Gesicht, das da vor mir lag, konnte ich nicht schreien, nicht einmal flüstern. Es würde bei dem kleinsten Laut in sich zusammenfallen.
    Wenn ich meine Anstandsminuten abgesessen hatte, würde ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ich hoffte nur, er würde nicht vorher aufwachen. Nachdem ich eine Weile mit abgewandtem Blick dagesessen hatte, betrachtete ich zögernd sein Gesicht, das mir fremd war und auch wieder nicht. Die vergangenen zwanzig Jahre schienen ihm weniger angetan zu haben als diese Krankheit, die an ihm zehrte.
    Als ich ihm das letzte Mal gegenübergestanden hatte, war ich unfähig gewesen, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Nun verstummte ich, weil ich völlig gefühllos hätte sein müssen, wenn ich dem Häufchen Elend da auf dem Bett auch nur ein einziges böses Wort ins Gesicht gesagt hätte. Ich fühlte mich betrogen.
    In meine Gedanken hinein ertönte im Erdgeschoss die Klingel. Kurz darauf hörte ich die Stimme einer Frau. Wer auch immer zu Besuch gekommen war, würde mir die Gelegenheit geben, dieses Haus ohne größere Umstände wieder zu verlassen.
    Als die Lider meines Vaters unruhig flatterten, verharrte ich einen Moment bewegungslos. Ich wollte nicht mit ihm reden, jetzt nicht mehr. Lautlos erhob ich mich aus dem Stuhl und stahl mich davon.
    Franz Lehnert war offensichtlich mit seinem Besuch im Wohnzimmer. Vom Flur aus rief ich: »Ich gehe dann ... « Fast war ich schon zur Tür hinaus, als seine Stimme mich zurückhielt. »Carla, warten Sie bitte.«
    Mit hängenden Schultern blieb ich stehen.
    »So mag ich Sie nicht gehen lassen.«
    »Ich war hier, Herr Lehnert, so, wie Sie es wollten. Wenn es meinem Vater hilft, dann sagen Sie ihm das. Mehr können Sie

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