Nur ein Gerücht
spüren. Dieses Zwillingspärchen ging in unsere Parallelklasse und war sehr beliebt. Die Geschichte war für die glorreichen Fünf ein gefundenes Fressen. So wie ich meine unverwechselbaren Namen bekommen hatte, bekam Nadine die ihren. Sie hieß entweder Kleiderstange, Schminkkasten, Schaufensterpuppe oder Hurentochter. An einem Tag waren wir die Dicke und die Schicke , am anderen Dick und Doof «
Mit einem Kopfschütteln drückte Susanne ihre Zigarette auf einem der Steine aus.
»Ich schäme mich dafür«, fuhr ich einem inneren Drang folgend fort, »aber in den ersten Tagen war ich froh, dass sie endlich ein anderes Opfer hatten, das die Aufmerksamkeit von mir ablenkte. Deshalb wimmelte ich auch zunächst jeden ihrer Annäherungsversuche ab. Sie wirkte so stark, ich dachte, sie könnte es ertragen. Aber was ich als Stärke interpretiert hatte, war nur Trotz.« Ich schluckte. »Meine Schonzeit dauerte tatsächlich nur ein paar Tage. Als ich gewahr wurde, dass sie sich jetzt anstatt einer zwei Außenseiterinnen vornahmen, ging ich auf Nadine zu. Ich erinnere mich noch an unser erstes Gespräch nach der Schule. Es war, als wären zwei Dämme gebrochen. Jede von uns klagte der anderen ihr Leid. Von da an ging es uns beiden etwas besser.«
»Und ihr habt euch angefreundet?«
Ich nickte. »Aber die Schikanen in der Schule haben unser beider Lebensgefühl stark überschattet. In unseren Gesprächen drehte es sich nie um Jungs, Musik oder Pickel. Das Einzige, was tatsächlich altersgemäß war, war das Gefühl, von unseren Eltern unverstanden zu sein. Heute würde ich sagen, sie haben uns vernachlässigt, weil sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren - im Glück wie im Unglück.«
»Es muss schrecklich für deine Freundin gewesen sein, als du nach München gezogen bist ...«
Ich schwieg.
Susanne strich sich über die Arme, als friere sie. »Eine Freundin, die man tagtäglich sieht, ist doch irgendwie etwas anderes als eine, mit der man nur hin und wieder telefoniert oder sich schreibt.«
»Ich habe den Kontakt zu ihr abgebrochen. Damals dachte ich, es wäre besser so.«
»Was ist gut daran, wegen ein paar hundert Kilometern Entfernung eine Freundschaft abzubrechen?«, fragte sie erstaunt. Ich sah in den Himmel und dachte an die Szene im Biologieraum. Wie sollte ich Susanne erklären, dass es für mich nur diesen Weg gegeben hatte? »Es ist damals etwas geschehen, das ... du musst dir vorstellen ... «
»Was?«
Schweren Herzens gab ich mir einen Ruck. »Nadine und ich waren stets die Ersten, die aufsprangen und hinausliefen, wenn die Klingel für den Schulschluss ertönte«, begann ich tonlos zu erzählen. »An diesem Tag war jedoch alles anders. Ich musste nach dem Biologieunterricht bleiben und den angrenzenden Materialraum aufräumen, da ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. So schnell, wie ich sonst das Klassenzimmer verließ, ging ich nach nebenan und begann meine Strafarbeit. Mit halbem Ohr hörte ich die üblichen Geräusche - Stühlerücken und Schritte, die sich Richtung Ausgang bewegten. Doch dann war da ein Aufschrei, und ich schaute durch den Türspalt.«
»Ja und?«
Ich versuchte, das Bild meiner Erinnerung in Worte zu fassen. Für einen Moment schloss ich die Augen. »Nadine musste aufgestanden sein, um zu gehen, als Karen, die hinter ihr saß, schrie: Igitt, da ist ja überall Blut. Nadine sah sich erschrocken um, sie dachte, jemand sei verletzt. Dann bemerkte sie, dass alle sie anstarrten und Karen auf sie zeigte. Als sie an sich hinuntersah, entdeckte sie rote Flecke auf ihrer weißen Hose. Nadine hatte zum ersten Mal ihre Tage bekommen und es nicht gemerkt. Die Feuchtigkeit ihrer Hose hatte sie für Schweiß gehalten. Es war einer der heißesten Tage in jenem Sommer. Sie wurde kreidebleich, ließ sich augenblicklich zurück auf ihren Stuhl fallen und legte sich ihre Schultasche auf den Schoß.«
»Was für ein Alptraum!« Susanne ließ mich nicht aus den Augen.
»Ich sehe sie noch immer vor mir, wie sie da sitzt«, sagte ich leise, »mit gesenktem Kopf. Ihre ganze Körperhaltung drückte die Hoffnung aus, so schnell wie möglich den Blicken der anderen zu entkommen. Sie schien immer kleiner zu werden. Ich stand mit angehaltenem Atem hinter der Tür und wartete, dass die anderen den Raum verließen. Die meisten taten es auch, nachdem sie sich satt gegafft hatten - natürlich nicht ohne den einen oder anderen saftigen Kommentar.«
»Und die glorreichen Fünf
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