Nur ein Hauch von dir
nie zurückbekommen konnte, und Grace würde dagegen kämpfen …
Ich war kurz davor aufzugeben, als ich sie entdeckte. Am Fuß der Pagode hörte die Gruppe von Oberstufenschülern einem Vortrag zu. Ich konnte Rob sehen, der sich lässig gegen eine Mauer lehnte und gelangweilt wirkte. Grace entdeckte ich nicht.
Ich bekam noch nicht wieder genug Luft, um zu schreien, doch mit meiner letzten Energie rannte ich hinter die Pagode. Sie musste hier irgendwo sein, und je schneller ich sie fand, desto weniger würde sie verlieren.
Endlich sah ich sie im Schatten des asiatischen Gebäudes. Sie war alleine und das Gesicht der Mauer zugewandt. Einen kurzen Augenblick lang dachte ich, ich wäre rechtzeitig gekommen, aber dann bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Kerzengerade stand sie da, die Hände seitlich etwas abgespreizt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Ihre Augen waren glasig.
Ich war zu spät gekommen.
Als ich die letzten Meter rannte, bemerkte ich, wie ihr Körper zuckte, als bekäme sie Stromstöße. Schliddernd kam ich zum Stehen, griff nach ihrem Rucksack und schrie: »Catherine, hör auf! Du hast die Falsche!«
Meine Stimme bewirkte nichts. Ich fummelte an den Verschlüssen von Grace’ Rucksack. Da war der Umschlag. Mit zitternden Händen riss ich ihn auf, und das Amulett fiel mir in den Schoß. Schnell nahm ich es und schob es über Grace’ Handgelenk, wobei ich wieder schrie:
»Catherine, hör auf, ich bin es doch, die du willst!«
Ich ließ das Amulett los, und sofort sackte Grace vor mir auf den Boden. Schreckliche Angst überfiel mich: Was auch immer Grace Schreckliches zugestoßen war, es würde nun auch mit mir geschehen. Doch ich hatte nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Grace war in Sicherheit, das Amulett würde sie schützen, doch mich durchfuhr es eiskalt, denn mein ganzer Plan, das Amulett sicher zu verwahren, war gescheitert. Grace konnte nicht wissen, dass sie das Amulett nicht tragen und mir nicht zurückgeben durfte. Vor mir im Gras lag die Speicherkarte, die aus dem Umschlag gefallen war, als ich ihn aufgerissen hatte.
Doch es war zu spät, ich konnte es nicht mehr aufhalten. Ein kleiner Funken Trost schoss mir durch den Kopf: Ich war dabei, mein altes Leben zurückzubekommen.
Plötzlich purzelten Gedanken an Callum in meinem Kopf durcheinander. Ich dachte an seine Berührung, sein Lächeln und daran, wie verlegen er geworden war, wenn ich ihm ein Kompliment gemacht hatte. Wie ein Video bei schnellem Vorlauf rasten mir die Erinnerungen durch den Kopf und lösten sich auf, bevor ich sie fassen konnte. Mit einem Aufflackern von Panik merkte ich, dass Catherine mit ihrem Werk begonnen hatte und den wichtigsten Teil meines Lebens aufwickelte wie einen Faden auf eine Spule.
Ich versuchte, mich nicht zu wehren und den Vorgang so für sie leichter und für mich sicherer zu machen. Meine Gedanken und Erinnerungen rollten weiter an mir vorbei. Ich sah mich selbst am Strand der Themse den blauen Stein des Armreifs untersuchen, den ich gefunden hatte, doch dann dachte ich plötzlich an die letzten Prüfungen … An das Pläneschmieden mit Grace, wie wir das Interesse von Rob und Jack erringen könnten … Weihnachten … Unser Familienurlaub letztes Jahr in Spanien … Die Erinnerungen kamen immer schneller und zogen an mir vorüber. Jetzt war ich ein schlaksiger junger Teenager, dann ein Kind. Ich sah mich selbst auf dem Spielplatz der Vorschule mit fliegenden Zöpfen im Spiegelbild einer Fensterscheibe mit meinen Freundinnen herumtoben, meine Eltern, erschreckend jung, wie sie mir im Kinderbecken das Schwimmen beibrachten, ich sah mein Lieblingsspielzeug, einen abgewetzten kleinen Hund aus Stoff. All das war für einen winzigen Augenblick da, bevor es von mir wegströmte.
Mein ganzes Leben war dabei zu verschwinden. Alles, was mich zu dem gemacht hatte, was ich war, wurde mir entrissen. Wie bei einem Film konnte ich zusehen, wie ich einen Tunnel entlanggetrieben wurde und auf das schwarze Loch am Ende zuraste.
Zu spät wurde mir klar, dass ich reingelegt worden war. Durch den wirren Strudel meiner Vergangenheit konnte ich die Anwesenheit von etwas Heimtückischem spüren, das neben mir stand und triumphierend lachte.
Die Schwärze kam weiter auf mich zu, und alles, woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass mich irgendwann irgendjemand irgendwo geliebt hatte. Ich klammerte mich daran, als das letzte bisschen meiner Erinnerungen an mir vorbeiwirbelte, und dann fiel ich
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