Nur ein Hauch von dir
Mädchen, die sich heute Morgen im Aufenthaltsraum der Oberstufe aufgehalten haben, nachsitzen. Und jetzt zurück in die Klassenräume, wir haben schon eine halbe Stunde wertvoller Unterrichtszeit vergeudet.«
War das schon eine halbe Stunde? Voller Panik sah ich auf die Uhr. Viertel nach zehn. Ich drängelte mich in der Menge nach vorne, als wir wieder in das Gebäude zurückgingen.
Ich ging, so schnell ich konnte, und musste mich zwingen, nicht zu rennen, was ich am liebsten gemacht hätte. Ich hatte fast alle meine Freundinnen überholt, und als ich an die Treppe kam, trabte ich los.
Ich war als Erste zurück im Aufenthaltsraum und drückte meinen schäbigen alten Rucksack erleichtert an mich. Ich hatte immer noch mehr als eine halbe Stunde. Ich kämpfte mich mit pochendem Herz die Treppe nach unten. Im Gehen nahm ich das Handy aus der Seitentasche, um Grace anzurufen. Es gab eine neue SMS . Ich blieb abrupt stehen.
Dann riss ich mir den Rucksack von der Schulter. Der Umschlag war fort. Ich schob Bücher und Hefte zur Seite und durchwühlte jede Ecke, nichts. Alles lief ab wie in Zeitlupe, und mir rieselte die Angst eiskalt über den Rücken. Eloise stolperte über mich, als sie die Treppe hochkam. »Was ist denn, Alex? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Hast … hast du Grace heute schon gesehen?«, fragte ich.
Sie blickte mich verwundert an. »Ja, natürlich. Vorhin waren wir in Geographie, dann war sie im Aufenthaltsraum. Jetzt ist sie mit dem Umweltstudien-Kurs in den Park von Kew. Die sind kurz vor dem Feueralarm los. Habt ihr beide Streit?«
»Äh, nein. Ich muss ihr nur was Wichtiges sagen.«
»Das muss wohl warten, das wird noch ein paar Stunden dauern. Ich war letzte Woche mit, und es war total cool. Wir waren auf dem Sprossenweg durch die Baumkronen. Grace’ Team ist mit der Gruppe aus der Jungenschule losgegangen.« Das Letzte rief sie über die Schulter zurück, weil sie längst weitergeschoben worden war.
Denk nach!, befahl ich mir. Ich ballte die Fäuste, bis sich mir die Nägel in die Handfläche bohrten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Grace das Päckchen nehmen könnte, während ich weg war. Vor dem Alarm bin ich nur ein paar Minuten auf der Toilette gewesen, ohne meinen Rucksack, doch das hatte gereicht.
Grace’ SMS erklärte alles:
Hab das Päckchen! Alles sehr geheimnisvoll.
Jetzt in Kew. Komme spät zurück. Aber dann musst du erzählen!
Catherines Anweisung schoss mir durch den Kopf: »Es spielt keine Rolle, wo du bist, ich komme. Du musst nur das Amulett dabeihaben. Ich brauche es, um dich zu orten. Aber lege es auf keinen Fall an.«
Nun trug Grace das Amulett mit sich herum! Das bedeutete, Catherine würde in rund – ich schaute auf die Uhr – dreißig Minuten versuchen, ihre Erinnerungen zu nehmen. Ich erinnerte mich mit grauenvoller Deutlichkeit an ihre Beschreibung: Wenn der betreffende Mensch Widerstand leistet – also versucht, seine Erinnerungen zu behalten –, dann kann es passieren, dass er als leere Hülle zurückbleibt, kaum noch lebendig. Ein Mensch zwar, aber leer.«
Grace könnte plötzlich mit nichts dastehen – leer, zerstört. Mich überkam furchtbares Entsetzen, meine Hände waren eiskalt, und im Nacken sträubten sich mir die Haare. Was auch immer Grace zustoßen würde, es war meine Schuld. Ich musste sie warnen, und zwar schnell. Mit zitternden Fingern versuchte ich auf ihrem Handy anzurufen. Es klingelte, doch nach wenigen Sekunden meldete sich die Mailbox mit Grace’ glücklicher, unbeschwerter Stimme. Früher war mir nie aufgefallen, wie lang ihre Ansage war. Qualvoll langsam vertickten die Sekunden.
»Grace, ich bin’s. Es ist unheimlich wichtig, dass du sofort das Päckchen loswirst! Sofort, hörst du! Wirf es in den Abfalleimer oder sonst wohin. Bitte! Mach das jetzt, sofort, und ruf mich dann gleich an!«
Es konnte Stunden dauern, bis sie meine Nachricht abhörte. Ich brauchte einen Plan B und zermarterte mir das Hirn, wer sonst noch im Umweltstudien-Kurs war. Es war keins von meinen Fächern, und ich kannte weder die Leute noch ihre Handynummern. Dann fiel mir Eloise wieder ein, die offensichtlich mehr wusste. Was hatte sie noch mal über die Gruppe gesagt? Dann fiel es mir ein: Es war ein gemeinsamer Ausflug mit der Jungenschule, und da kannte ich zumindest einen, der auch Umweltstudien hatte – Rob.
Natürlich wollte ich Rob zu allerletzt anrufen, doch mir blieb keine andere Wahl. Ich ging
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