Nur ein Jahr, Jessica!
hatte, seit ich bei Frau Ingwart wohnte!
Dann machte mir Tante Christiane einen Abschiedsbesuch. Als wir ein paar Minuten allein waren, reichte sie mir ein Kuvert und erklärte: „Liebe Patentochter, du wirst dich gewundert haben, daß ich dir für deine Eins im Physikum nichts geschenkt habe! Nein, sei ganz ruhig und laß mich ausreden. Ich hatte vor, dir eine goldene Uhr zu schenken. Aber in Anbetracht der veränderten Verhältnisse…“
„Ich habe gar nicht mein Verhältnis geändert, Tante Christiane!“ unterbrach ich sie.
„Sprich nicht frivol mit deiner alten Patentante! Also, da ich einsehe, daß du zur Zeit andere Dinge dringender brauchst als eine goldene Uhr, habe ich es so gemacht – bitte sehr, die Bank hat auch in Frankfurt eine Filiale, dorthin kannst du jeden Monat dein Gehalt hinbringen!“
Ich erhielt ein Sparbuch mit einer Eintragung über fünfhundert Mark.
„Tante Christiane, ich weiß einfach nicht, wie ich…“, fing ich an.
„Schon gut, schon gut Fall mir nun schnell um den Hals, das wirst du sowieso gleich tun. So, mein Mädchen…“, sie streichelte mir den Rücken, als ich sie umarmte, und plötzlich wurde ihre Stimme ganz sanft und weich: „Du bist ein tapferes Mädchen, Jessilein. Ich – ich kann dich so gut leiden!“
Dann mußte ich lächeln, und in dem Augenblick kam Frau Ingwart ins Zimmer.
Reni war wieder da. Braungebrannt, strahlend und glänzend erholt! Sie hatte auch zugenommen, und ihre Augen hatten einen neuen Ausdruck. Sie wirkte irgendwie erwachsener, und das stand ihr gut.
Einen Tag verlebten wir noch zusammen, bevor ich losfahren mußte. Reni zeigte mir Bilder, erzählte von Mombasa und Manfred, vom Schwimmen im Indischen Ozean und Manfred, von einem Wochendendflug in die Serengeti und von Manfred. Sie war auch bei Sonja und Heiko gewesen und überreichte uns Andenken – Holzschnitzereien, nette Kleinigkeiten aus afrikanischen Steinen und für mich einen wunderschönen Kleiderstoff aus handgedruckter Baumwolle.
Frau Ingwart ging immer früh zu Bett. Wir beide blieben noch eine Weile sitzen, freuten uns, daß wir wieder zusammen waren, und erzählten.
„Weißt du“, sagte ich. „Ich habe mich eigentlich jetzt mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß ich ein Jahr nicht studieren werde. Ich bin einfach gespannt auf diese Leute in Frankfurt. Zu komisch, daß der Herr des Hauses ein Mädchen anstellt. Na ja, wir werden sehen. Geld werde ich jedenfalls verdienen, Geld in großen Mengen! Die Sache hat nur einen Haken. Es ärgert mich ein bißchen, daß ich nicht gleichzeitig mit dir mein Staatsexamen machen kann. Ich werde noch büffeln und Examensangst haben, während du hochnäsig durch die Gegend läufst, womöglich schon als ,Dr. med.!’“
Da lächelte Reni. „Laß dir deswegen keine grauen Haare wachsen, Jessica. Ich verspreche dir, daß ich gleichzeitig mit dir ins Examen steige!“
„Jetzt begreife ich gar nichts mehr! Du willst doch bestimmt nicht für ein Jahr als Hausgehilfin arbeiten!“
„Um Himmels willen! Die Hausfrau, die mich bekäme, täte mir leid. Also, paß mal auf: Ich studiere jetzt noch ein Semester, dann höre ich für ein Jahr auf, und so kommen wir letzten Endes in den alten Takt, du und ich.“
„Aber warum, Reni? Warum in aller Welt?“
Es lag ein unergründliches kleines Lächeln um Renis Mund, als sie antwortete: „Weil ich ein Kind kriege, Jessica!“
Ich glaube, es dauerte eine volle Minute, bis ich die Sprache wiederfand. „Du – ein Kind – aber – aber… Wie willst du dann das weitere Studium schaffen? Wer soll sich um das Kind kümmern?“
„Das ist doch wirklich das kleinere Übel“, lachte Reni. „Mit zwei solchen Großmüttern! Sie werden sich um das Kind reißen. Und jede wird neidisch auf die andere sein, das Kleine nicht versorgen zu dürfen!“
„Und du meinst, daß du genug Zeit und Ruhe für das Studium haben wirst?“
„Ganz sicher! Ich werde Ärztin, ich werde ,Dr. med.’, und ich werde Fachärztin für Kinderheilkunde!“
Renis Stimme klang fest und entschlossen, und die blauen Augen in ihrem lustigen, sommersprossigen Gesicht strahlten eine neue Wärme aus.
Ich saß im Zug. Über mir mein guter, alter Koffer, prall gefüllt, und neben mir stand eine blaue Flugtasche, die Reni mir von ihrer Afrikareise mitgebracht hatte. Darin lagen meine Reisebrote, eine Obsttüte, eine Tafel Schokolade – alles milde Gaben – und meine Reiselektüre. Nein, es war kein spannender Roman, keine
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