Nur ein Jahr, Jessica!
Meinung.“
„Ich sage, du bist ein Schaf! Liebes Kind, wozu hast du eine Patentante, sogar eine mit etwas Geld? Kind, ich kann dir doch ein bißchen unter die Arme greifen und dich zwei Semester über Wasser halten…“
„Ja, siehst du, Tante Christiane, ein solches Angebot habe ich befürchtet, deswegen habe ich dir bis jetzt auch nichts erzählt. Verstehst du, wenn ich wirklich in größter Not wäre, wenn ich in einer Situation stecken würde, wo ich gezwungen wäre, jemanden um Hilfe zu bitten, dann käme ich zu dir, ganz bestimmt. Aber dies ist nicht die größte Not! Ich kann arbeiten, und ich möchte gern arbeiten. Wenn mein ganzes Studium gefährdet wäre, dann wäre es etwas anderes. Aber es geht ja nur um ein Jahr! Und noch etwas, Tante Christiane. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Meine Eltern haben ein sehr schweres Jahr vor sich, sie werden schuften müssen wie nie zuvor. Wenn ich nun auch arbeite, habe ich das Gefühl, daß ich mitmache, daß ich ihnen helfe, daß ich ein klein wenig zum Wohl der Familie beitrage. Wenn ich jetzt das Geld für zwei Semester ,zusammenkochen’ kann, dann habe ich ja den Eltern geholfen!“
Tante Christiane streichelte mir schnell die Wange. „Ich verstehe dich, Jessica. Aber etwas sollst du mir versprechen, das verlange ich von dir. Wenn du in die Lage kommen solltest, daß du Hilfe haben mußt, daß du jemanden bitten mußt, dann will ich der Jemand’ sein. Versprichst du mir das?“
„Ja, Tante Christiane. Das verspreche ich.“
„Und nun müssen wir sehen, was zu machen ist. Jedenfalls werde ich die Inserate in meiner dicken Sonntagszeitung mit Adleraugen studieren.“
„Ach, das willst du? Ich ahnte nicht, daß Adler lesen können.“
„Ach, halt doch deinen Mund, du naseweise Göre! Also, wenn ich einen Hilferuf nach einer erstklassigen Köchin sehe, dann rufe ich dich an! Schade, daß ich dir kein Zeugnis ausstellen kann, du hast ja in dem Sinn nicht bei mir gearbeitet, nur damals als – halt! Weißt du, was du machen kannst? Wenn du dich um eine Stellung bewirbst, kannst du dich auf mich berufen. Sage der Gnädigen, daß sie mich anrufen kann, und dann werde ich ein Loblied auf dich singen, daß man es bis in den Himmel hört. Hoffentlich vergißt sie dann zu fragen, wie lange du bei mir gearbeitet hast.“
„Das ist furchtbar lieb von dir, Tante Christiane. Aber eines mußt du mir versprechen: Verrate nicht, daß ich Medizinstudentin, ich meine, ,Cand. med.’ bin! Das würde alles nur komplizierter machen. Ich bin ganz einfach ein Mädchen, das gerne kocht und gerne Hausarbeit verrichtet.“
„Gut! Und wann soll ich anfangen, die Inserate durchzuwühlen?“
„Kommt darauf an, wann Frau Ingwart mich rausschmeißt!“
„So lange, wie Sie das Silber nicht klauen und das Essen nicht anbrennen lassen, können Sie bleiben“, erklärte Frau Ingwart verschmitzt. „Oder sagen wir, bis Reni zurückkommt!“
„Also, Tante Christiane, ab Semesterbeginn muß ich eine neue Stellung haben.“
„Dann bin ich im Bilde. Aber jetzt, glaube ich, muß ich endlich an den Rückweg denken. Isa begreift bestimmt nicht, wo ich so lange geblieben bin, und Bicky erst recht nicht. Dann viel Glück zu deinem Hammelbraten, Jessica!“
„Ach richtig, es gibt ja morgen Hammelbraten!“ rief Frau Ingwart. „Was ich sagen wollte, Jessica, Sie können den Braten bestimmt sehr schön zubereiten, nur eins bitte ich Sie: Kein Knoblauch! Dagegen bin ich nämlich allergisch!“
Es dauerte noch fünf Minuten, bis Tante Christiane sich verabschieden konnte. Soviel Zeit brauchten wir, um Frau Ingwart zu erklären, warum wir beide einen Lachkrampf bekamen.
Abschied vom Hasensteg
Im Garten blühten die Schneeglöckchen und die Krokusse. Die Bäume bekamen den ersten zarten Grünschleier, und an dem kleinen Bach säumten die gelben Schlüsselblumen das Ufer. Die Nachmittage wurden länger und sonnig – es war Frühling.
Die Zeit raste dahin. Ich hatte mich ganz bei Frau Ingwart eingelebt. Ehrlich gesagt, genoß ich es auch, nicht lesen und lernen zu müssen. Nie hatte ich mich in meinen Semesterferien so vollkommen entspannt, das Lernen so völlig ausgeschaltet.
„Das tut dir gut“, erklärte Falko. „Letzten Endes wird dieses Jahr ein richtiges Erholungsjahr für dich!“
Falko kam oft zu uns. Frau Ingwart hatte ihm gesagt, daß er jederzeit willkommen sei. Dafür machte er kleine Reparaturen im Haus, erledigte Besorgungen mit dem Auto und
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