Nur ein Jahr, Jessica!
Norweger, den ich kenne, der die Schwester meiner besten Freundin geheiratet hat. Das sagt man doch immer in Norwegen nach dem Essen?“
„Immer! Das ist eine selbstverständliche Höflichkeit. Das gehört zu dem nicht allzu großen norwegischen Wortschatz von Elaine. Wissen Sie, sie hat schon als kleines Kind Französisch gelernt, weil wir jeden Sommer im französischsprachigen Wallis sind, und dann wollten wir das kleine Gehirn nicht mit einer dritten Sprache belasten. Aber in den letzten Jahren hat sie auch etwas Norwegisch gelernt, jedenfalls so viel, daß sie sich mit meiner Mutter unterhalten kann. Da läßt sie es auch über sich ergehen, Lillepus genannt zu werden. Ja, das ist norwegisch und bedeutet etwa Muschilein.“
„Frau von Krohn nennt sie ja auch so!“
„Ja, sie darf es auch, denn wie Elaine sagt, Tante Elsbeth ist zu alt, um sich umzustellen.“
„Ich habe das Gefühl, daß ihr kleines Gehirn, wie Sie sagen, doch außerordentlich gut funktioniert! Sie ist doch ein sehr intelligentes Kind.“
„Nun ja, das ist sie wohl. Das hat sie von meinem Mann.“
„Und die fröhliche Aufgeschlossenheit von Ihnen?“
„Jedenfalls von meiner Familie. Es ist eben ein fröhliches lächelndes Völkchen da unten, sonnige Menschen in einem sonnigen Land. Sie sind immer hilfsbereit, immer zu einem Scherz aufgelegt, sie sind unkompliziert und geradeheraus. So war mein Vater auch, sagt meine Mutter. Ich habe ihn nie gekannt, er starb ein paar Tage nach meiner Geburt.“
„Wie furchtbar für Ihre Mutter! Wie gut habe ich es trotz allem, ich habe sowohl Mutter als auch Vater, und ich verstehe mich bestens mit ihnen!“
Während wir uns unterhielten, hatte Frau Grather ihren Sohn gefüttert.
„So!“ erklärte Frau Grather und hob den Kleinen vom Stuhl. „Jetzt geht’s ins Heiabettchen, nicht wahr, Marcus? Sag auf Wiedersehen zu Tante Jessica!“
„Wiedersehn!“ murmelte der Junge und reichte mir sein kleines schläfriges Pfötchen.
Wie habe ich diesen Tag genossen!
Als ich mich nach dem Kaffee verabschieden wollte, protestierte Frau Grather. Was sei das für ein Unsinn, ich hätte doch niemanden, der auf mich warten würde, sie sei auch ganz allein.
„Wir haben es doch so nett und mögen einander so gern!“ gestand sie lächelnd.
„Was sind Sie für ein wunderbarer Mensch, daß Sie alles so geradeheraus sagen!“ platzte es aus mir raus. „Hätten Sie es auch gesagt, falls Sie mich nicht hätten ausstehen können?“
„Nein! Ich will doch meine Mitmenschen nicht verletzen. Aber dann hätte ich Sie nicht nach Hause eingeladen. Nun erzählen Sie mir ein bißchen mehr über Ihre merkwürdige Anstellung hier – wenn Sie wollen! Ich will aber nicht indiskret sein!“
„Oh, ich habe keine Schweigepflicht – ich habe ein Problem, und natürlich brauche ich Hilfe, um es zu lösen. Wenn ich etwas über das Leben dieser Frau wüßte, etwas von ihren Geheimnissen, nicht zu reden von einem Skandal oder so, würde ich nie ein Wort darüber erzählen. Aber ich fühle mich berechtigt dazu, einem guten und klugen Menschen meine persönlichen Probleme vorzulegen, und diese Dame ist wirklich mein Problem!“
„Bin ich der gute und kluge Mensch? Ach, du liebe Zeit, na ja, gut vielleicht. Aber was die Klugheit betrifft, dann suchen Sie sie lieber bei den anderen Familienmitgliedern. Warten Sie bloß, bis Sie am nächsten Sonntag meinen Mann kennenlernen! Ach ja, richtig! Was ist Ihr Lieblingsessen?“
„Mein Lieblingsessen? Vielleicht Hasenbraten – aber warum fragen Sie danach?“
„Damit ich weiß, was ich nächsten Sonntag koche! Kann man auch Hasenbraten mit Zeitschaltuhr machen?“
„Sicher! Aber meinen Sie, daß ich nächsten Sonntag auch…“
„Klar! Ich freue mich schon darauf!“
„Und ich erst! Ich könnte Sie umarmen!“
„Bitte sehr, ich stehe Ihnen zur Verfügung. Aber nun erzählen Sie doch endlich. Sie haben große Schwierigkeiten, und oft hilft es einem, darüber sprechen zu können. Manchmal ist es so, daß man klarer sieht, wenn man ein Problem in Worte kleidet.“
Dann erzählte ich. Von der komischen Sturheit der Frau Frisch-Nielsen, von ihrer Sprunghaftigkeit, von ihrer bodenlosen Naivität, von ihrer vollkommen leeren Redseligkeit – und von ihrer sagenhaften Untüchtigkeit.
Frau Grather lauschte aufmerksam. „Wissen Sie was“, meinte sie endlich, als ich alles ausgepackt hatte, „ich muß an etwas denken, was Tante Edda, also Frau Dieters-Callies, einmal
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