Nur ein Katzensprung
Ich habe hier ein Foto. Sie wirkt deutlich älter, ein ausgesprochen hübsches Mädchen.“
„Wo ist sie verschwunden?“
„Sie war mit dem Hund der Familie, einem schwarzen Labrador, Gassi. Der Hund war am Spielplatz an den Zaun gebunden. Von dem Mädchen fehlt jede Spur.“
„In einer Viertelstunde sind wir bei der Familie. Gibt es sonst etwas Neues?“
Mausig antwortete nicht gleich. „Unsere Telefonleitung bricht immer wieder zusammen. Wir haben ein paar Damen aus der Stadtverwaltung zusätzlich angefordert, damit sie die E-Mails und Telefaxnachrichten lesen. Das Einzige, was sich konkret anhört, sind drei Zeugenaussagen, die gesehen haben wollen, dass Detlef Hanske zu einem Mann in dessen Wagen gestiegen ist und Kelvin Jänicke allein an der Bushaltestelle zurückgelassen hat.“
„Das würde ihn allerdings entlasten.“
„Von dem Vorwurf der Entführung, ja, vom Vorwurf der Verletzung der Aufsichtspflicht nicht.“
„Was Kelvin auch nicht zurückbringt.“
„Stimmt. Aber man kann jemandem die Schuld geben.“
Ollner grunzte nur.
„Noch eins“, sagte Mausig.
„Die Eltern sind fest davon überzeugt, dass ihre Tochter von jemandem entführt wurde, der Lösegeld haben will. Sie lehnen es strikt ab, dass die Entführung ihrer Tochter mit der Kelvins in Zusammenhang stehen könnte.“
„Wieso glauben sie das?“
„Ihre Tochter ist ein Star.“
Kofi sagte laut: „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ und bereute es im nächsten Moment. „‘Tschuldigung, aber es klingt …“
„Abgedreht?“ Mausig seufzte. „Scheinbar hat die Kleine recht erfolgreich in einem Shampoo-Werbespot mitgespielt.“
Kofi hatte den Mund bereits zu einer Erwiderung geöffnet, doch Ollner bedeutete ihm, still zu sein. „Wir fahren hin und hören uns an, was sie zu sagen haben. Moment, nicht auflegen. Wieso müssen wir hinfahren, wenn Sie alle Infos bereits vorliegen haben?“
„Herr und Frau Nielsen haben uns angerufen und dann eine riesige Datei mit allen Angaben und einer großen Anzahl Fotos gemailt. Sie wollen das Haus nicht verlassen, damit sie den Anruf der Entführer nicht verpassen. Wir haben nicht persönlich mit ihnen gesprochen. Fahren Sie hin, machen Sie sich ein Bild, meine Herren.“
Kofi parkte vorsichtshalber erst, nachdem er ein gutes Stück am Grundstück der Nielsens vorbeigefahren war. Sie konnten es nicht riskieren, dass die Eltern recht hatten. War Emma wirklich entführt worden, egal, ob von einem Nachahmungstäter oder tatsächlich wegen eines Lösegelds, so war nicht auszuschließen, dass der oder die Täter das Haus beobachteten.
Ollner und Kofi schlenderten auf der anderen Straßenseite zurück. Dabei überwachten sie die Umgebung genau und schauten in die vier am Straßenrand geparkten Autos. In der Straße regte sich wenig. Ein Mann im Blaumann beschnitt einen Apfelbaum mit einer Motorsäge. Eine junge Frau harkte Blätter vom Rasen. Ein Pizza-Bringdienst-Moped knatterte vorbei. Die beiden blieben stehen und betrachteten das weiße Einfamilienhaus. Der Garten war gepflegt, die Doppelgarage verschlossen und begrünt. Auf dem Dach glänzten Sonnenkollektoren.
Kofi fühlte sich unwohl, als er den Weg zum Haus entlangging. Granit, wohin man schaute, alles grau, dazwischen ein wenig Edelstahl. Die Rosenkugeln stellten die einzigen Farbtupfer dar. Die Rosen darunter waren bereits zurückgeschnitten und abgedeckt. Ob ein Gärtner dafür verantwortlich war?
Herr Nielsen, der einen grauen Anzug mit Krawatte und Straßenschuhen trug, öffnete die Tür so schnell, dass er dahinter gestanden haben musste. Er ließ sich die Ausweise zeigen, bevor er die beiden Polizisten ins Haus bat.
Die Kombination aus Stein und Edelstahl setzte sich im Haus fort. Marmorfliesen und Stahlschränke, dazu Leuchten mit großen stählernen Lampenschirmen. In einer ausladenden blauen Glasschale auf einem hochbeinigen Tisch mit Glasplatte lagen verschiedene polierte Steine und zwei gesprenkelte Eier. Kofi fröstelte.
Herr Nielsen geleitete sie ins Wohnzimmer. Die rückwärtige Wand bestand komplett aus Glas. Die riesigen Fenster gingen auf eine Terrasse hinaus, hinter der sich der Garten bis zu einer Natursteinmauer erstreckte.
Frau Nielsen stand, ganz in Schwarz gekleidet, an der Terrassentür. Sie war äußerst zart, wirkte fast mädchenhaft. Als ihr Mann neben sie trat, der gut zwei Köpfe größer war als sie, schien sie weiter zu schrumpfen. Dafür klang ihre Stimme fest und kraftvoll. „Wir
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