Nur ein Katzensprung
Eltern, liebe Erziehungsberechtigte unserer Grundschule. Furchtbare Geschehnisse sind über unsere Heimatstadt Holzminden hereingebrochen. Kelvin und Emma“.
Hier machte er eine bedeutsame Pause. „Kelvin und Emma, zwei Kinder aus der ersten Klasse dieser Grundschule, wurden entführt.“
„Erzähl uns was Neues!“, rief ein Vater dazwischen.
Schwarze ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Zwei Kinder sind innerhalb von zwei Tagen verschwunden. Und was tut die Polizei?“
„Schlafen?“, rief einer und erntete verhaltenes Gelächter.
„Sie befragen die Eltern, was verständlich ist. Sie müssen schließlich ausschließen, dass die Kinder weggelaufen oder von einem geschiedenen Partner abgeholt wurden.
Doch danach, ich frage Sie, müsste danach nicht etwas Druck in die Untersuchungen kommen? Müsste man nicht jeden Stein umdrehen, bis man die Kinder gefunden hat?“
„Denen sind unsere Kinder doch egal.“
„Wer soll das bezahlen?“
Irene bekam so schnell gar nicht mit, wer sprach. Manchmal redeten die Menschen gleichzeitig. Zusätzlich gab es Applaus oder Buhrufe, was es noch schwieriger machte, zuzuhören.
„Ich habe gesehen, dass sie mit Hunden gesucht haben.“
„Hubschrauber waren auch dabei.“
„Warum erfahren wir nichts?“
„Weil sie nichts herausgefunden haben.“
Frau Ebenreiter hatte sich langsam nach vorn bewegt. Nun stand sie neben Herrn Schwarze und bat um das Mikrofon. Widerwillig reichte er es ihr.
„Die Polizei hat mehrere groß angelegte Suchaktionen durchgeführt. Außerdem ist immer ein Kollege oder eine Kollegin in Zivil auf dem Schulgelände anwesend. Dies soll möglichst nicht an die große Glocke gehängt werden, aber ich sage es Ihnen, damit Sie sich sicherer fühlen können.“
Sie war eine große Frau mit dunkelbraunen Augen und schon leicht angegrauten Haaren, die grellen Lippenstift bevorzugte.
Irene hatte Mitleid mit ihr, fragte sich allerdings, warum.
Eine Mutter meldete sich: „Warum schließen Sie die Schule nicht einfach ab, wenn alle Kinder drin sind?“
Frau Ebenreiter zuckte zusammen.
Jemand rief: „Das ist eine Schule, kein Gefängnis.“
„Tatsächlich gestaltet sich das etwas schwierig. Nicht alle Klassen haben jeden Tag morgens zur ersten Stunde hier Unterricht, nicht alle Kinder kommen pünktlich. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind kommt, warum auch immer, zu spät und steht dann vor der Tür, vielleicht nur eine Minute, aber …“
Weiter kam sie nicht.
„Semira bleibt morgen zu Hause.“
„Heißt das, Sie bringen alle in Gefahr, nur weil ein paar ihren Arsch morgens nicht aus dem Bett bekommen?“ Diese Mutter zitterte vor Wut.
„Ich bringe niemanden in Gefahr“, verwahrte Frau Ebenreiter sich. „Seien Sie doch vernünftig.“
Laute Rufe antworteten ihr.
Herr Schwarze ließ sich das Mikrofon geben und donnerte: „So kommen wir nicht weiter.“
Erst als fast alle wieder schwiegen, sprach er weiter. „Wir haben Sie eingeladen, weil wir denken, dass wir uns besser nicht auf andere verlassen. Wir müssen selbst dafür sorgen, dass unsere Kinder in Sicherheit sind, solange dieses Monster auf freiem Fuß ist.“
„Genau.“
„Abknallen den Kerl.“
„Der soll sich mal hier blicken lassen.“
Schwarze hob die Hände, um für Ruhe zu sorgen. „Ich denke, wir gründen eine Art Sicherheitsdienst oder auch eine Bürgerwehr. Wer mitmachen will, trägt sich in die Liste ein.“ Er wedelte mit einem Stapel Papieren. „Dazu muss jeder angeben, wann er oder sie Zeit hat. Dann erstellen wir einen Dienstplan, wer mit wem wann und wo aufpasst.“
Die meisten Anwesenden reagierten positiv auf diesen Vorschlag.
Nur eine Mutter meldete sich zu Wort und sagte, dass dies die Aufgabe der Polizei sei. Sie warnte davor, dass so etwas aus dem Ruder laufen könnte.
Die Versammlung buhte sie aus. Irene fand, dass sie durchaus recht hatte, wagte es aber nicht, sie zu unterstützen. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und schaute noch einmal nach, ob Kim sie angerufen hatte. Plötzlich wurde es völlig still im Saal. Irene richtete sich auf.
Angela Jänicke ging durch die Menge nach vorne. Wortlos umarmte Schwarze sie und reichte ihr das Mikrofon. Selbst von ihrem Platz aus konnte Irene die rotgeweinten Augen erkennen, als Angela die Sonnenbrille abnahm. Die elegant gekleidete Frau hob das Mikrofon an ihre zitternden Lippen und sagte: „Niemand soll das durchmachen müssen, was ich durchmache. Wir müssen uns selbst helfen, sonst hilft uns
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