Nur ein Kuss von dir
Zurückhaltung. Ich beuge mich über den Tisch. »Was hast du ihr gesagt?«
»Das ist eine lange Geschichte, und ich glaube, ich muss dir ein bisschen von mir selbst erzählen, damit du das alles verstehen kannst. Ist das in Ordnung?«
Ich blickte ihr in die Augen und sah nur Mitleid. »Entschuldigung, ich habe das nicht so gemeint, du weißt ja sicher, wie das ist.« Ich stolperte über die Worte, weil ich genau wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, ihr alles zu erzählen. »Es ist nur so, dass mir Catherine eine Zeitlang das Leben wirklich schwergemacht hat und ich keine Ahnung habe, warum.«
»Danke dir. Ich erkläre es, so gut ich kann.« Reverend Waters holte tief Luft. »Als ich eine Versunkene war, als ich … wie sie alle war, war ich nicht besonders nett. An all das kann ich mich so deutlich erinnern, aber wie alle anderen auch, leider an nichts davor.«
»An überhaupt nichts?« Ich musste sie einfach unterbrechen. »Als du rübergekommen bist, hast du da nicht die Erinnerung daran wiederbekommen, warum du überhaupt eine Versunkene geworden warst? Bei Catherine war das so, hat sie mir gesagt.«
Veronica lächelte mich betrübt an, und ihr verwittertes Gesicht wurde ganz weich. »Weißt du, vielleicht könnte ich mich erinnern, wenn ich nüchtern genug gewesen wäre. Doch es scheint ganz so, als wäre ich irgendwie völlig vom Alkohol benebelt in den Fleet gefallen. Da gibt es nichts zu erinnern.«
Ich blickte sie verblüfft an. »Wie? Was meinst du damit?«
»Ich war total verkorkst, das meine ich. Ich war vorher offenbar eine hilfsbedürftige süchtige Person, und das hat sich auch nicht geändert, als ich dann plötzlich merkte, dass ich mit den anderen in St. Paul’s festsaß. Ich war jung und schön gewesen, und ich bin fürchterlich wütend geworden. Ich hab mein Leben damit verbracht, die Bars und Clubs von London heimzusuchen und hab von den Erinnerungen der Leute gezehrt, die dort getrunken haben. Ich hatte viel mehr Spaß an betrunkenen Erinnerungen als an nüchternen.«
Wenn ich die gepflegte ältere Frau neben mir betrachtete, war es schwer, mir vorzustellen, wie sie Trinkern nachstellte, um deren alkoholgetränkte Gedanken zu erbeuten. Sie hatte eine Pause gemacht und wartete auf meine Reaktion, aber ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. »Ich weiß, ich sehe nicht danach aus, oder?«
»Wie lange ist es her, seit du wieder rübergekommen bist?«, fragte ich schließlich.
»Das war vor vielen, vielen Jahren. Als ich eine Versunkene war, muss ich so Mitte zwanzig gewesen sein, aber seitdem ist eine Menge Wasser unter den Brücken durchgeflossen. Also ich weiß nicht genau, wie alt ich bin, aber hier bin ich jetzt seit mehr als vierzig Jahren.« Sie brach ab und blickte gedankenverloren in den Raum. »Über vierzig Jahre warten, um das zu tun, was richtig ist.« Das Letzte kam nur als leises Flüstern, und ich hatte große Mühe, sie zu verstehen. »Und jetzt bist du gekommen, und wir können alles in Ordnung bringen.« Ihr plötzlich veränderter Tonfall erschreckte mich.
»Entschuldigung, ich glaube, das hab ich nicht verstanden.«
»Keine Sorge, Alex, keine Sorge. Ich habe nur etwas vorgegriffen. Es ist einfach so aufregend, nach all der Zeit dem Amulett wieder so nahe zu sein.« Sie blickte auf mein Handgelenk. »Darf ich?«, fragte sie, während sie schon meine Hand anhob.
»Ähm, klar, ich möchte es nur lieber nicht abnehmen, wenn dir das nichts ausmacht.«
»Ich verstehe, ich verstehe«, murmelte sie, während sie schon damit anfing, es genau zu betrachten. Ich war betroffen, wie vertraut mir ihre Bewegungen waren, wie sie das Amulett hin und her bewegte, als wollte sie das Licht einfangen. Und ich war entsetzt, als mir einfiel, warum es mir so vertraut war. Ich hatte das Amulett genauso betrachtet, als ich vor dem Bürogebäude in Soho versuchte, es Rob abzunehmen. So taktvoll wie möglich zog ich meinen Arm zurück und zwang sie damit loszulassen.
»Also, äh, du warst mittendrin, mir von deinem Leben als Versunkene zu erzählen«, ermunterte ich sie, da ich zum eigentlichen Thema zurückwollte.
»Ja, stimmt, war ich.« Veronica seufzte, lehnte sich zurück und nahm einen ordentlichen Schluck von ihrem Tee, der schon ganz kalt sein musste. »Es ist andererseits auch keine glückliche Geschichte. Keine von diesen Geschichten ist das. Ich erinnere mich absolut nicht daran, wie ich ertrunken bin. Ich vermute, dass ich schon bewusstlos war, als
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