Nur ein Kuss von dir
nicht! Und all die Rettungsteams, die im Moment den Fluss absuchen – ist das nicht den Versuch wert?« Ich konnte das Prickeln kommen und gehen spüren, als er sich bemühte, mit mir Schritt zu halten, während ich wieder in das Gedränge auf dem Gehweg der Fleet Street eintauchte.
»Ich denke, du machst dir etwas vor. Wenn erst einmal das letzte tödliche Fleetwasser in unsere Lunge gelangt ist, sind wir verdammt. Es gibt keinen Weg zurück.«
»Wir können es doch versuchen! Bitte! Ich meine, wenn du sowieso stirbst, was hast du dann noch zu verlieren?« Ich kam beim Rennen immer mehr außer Atem, während ich den Touristen auswich, die mitten auf dem Gehweg stehen blieben, um Fotos von jeder alten Statue zu machen.
»Ich hatte auf einen letzten Besuch oben auf der Kuppel gehofft, eine letzte Chance für uns, zusammen zu sein.«
Dieser Gedanke war so verführerisch, ich war hin- und hergerissen. Ihn fest in den Armen zu halten, zu küssen, zu spüren, wie er seine starken Arme um mich legte und mich sicher hielt. Doch ich musste mich bremsen, in solchen Phantasien zu schwelgen. Dafür war keine Zeit. »Ich würde das auch unheimlich gerne machen, aber noch lieber möchte ich die Chance nutzen, dass du vielleicht gerettet wirst. Wenn wir das schaffen, kannst du für immer mit mir zusammen sein.«
»Also gut, wir machen es auf deine Art.« Aber in seiner Stimme klang ein wehmütiger Ton mit, und ich fühlte mich schlecht, weil ich uns beiden die Gelegenheit verwehrte. Doch ich war sicher, dass es das Risiko wert war.
»Warum hast du die Versunkenen nicht auf der Flüstergalerie versammelt? Wenn die Kathedrale geschlossen ist, ist es für mich einfacher, dort mit ihnen zu reden, und da können sie in einer Reihe stehen, bereit für das … das Ende.« Meine Stimme schwankte, als mir klarwurde, was ich da sagte.
»Ich kriege das schon hin mit ihnen. Ich muss allerdings zuerst noch einmal schnell mit Olivia reden, um sicherzugehen, dass sie bereit ist.«
»Danke«, sagte ich und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich seit Tagen nicht an Olivia gedacht hatte. »Wir müssen sicher sein, dass es ihr gutgeht.«
Ludgate Hill war gerammelt voll, deshalb rannte ich die Straße hinauf und beachtete das Hupen der verärgerten Autofahrer nicht. Ich war fast oben, als ich merkte, dass das Prickeln nicht mehr da war. Bei der Statue vor der Kathedrale hielt ich an und rief ungeduldig: »Komm schon, Veronica wird sich fragen, wo ich abgeblieben bin.«
Das Prickeln war zurück. »Wartest du bitte? Nur für einen Augenblick?«
Ich hob den Spiegel, so dass ich sein Gesicht sehen konnte, und zog fragend die Augenbrauen hoch. Er war direkt hinter mir und hatte die Arme um mich gelegt. Seine Augen waren voller Wehmut.
»Das ist vielleicht der letzte Augenblick, den wir alleine zusammen haben«, sagte er schroff, ohne mich direkt anzusehen. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich keinen einzigen Augenblick der Vergangenheit bereue. Was auch immer jetzt passieren wird, ich kann gehen und bin froh über unsere gemeinsame Zeit. Und du wirst dich an mich erinnern, und auf diese Weise werde ich immer bei dir sein.« Er schmiegte sich näher an mich und seine Lippen strichen über mein Ohr. »Ich liebe dich, Alex. Ich liebe dich mehr als das Leben.«
Ich konnte nichts sagen, der Kloß, der mir in der Kehle saß, war zu groß. Ich hob die Hand und streichelte sein Gesicht, spürte es hauchzart unter den Fingern. Für ein paar wenige Augenblicke standen wir so zusammen, nahmen uns zum letzten Mal gegenseitig ineinander auf. Ich dachte, mein Herz würde vor Liebe zu diesem seltsamen schönen Geist zerspringen, und ich wusste, dass alles, was ich für Max empfand, nur ein ärmlicher Ersatz war. Callum war auch mein Leben. Plötzlich lächelte er.
»Ich habe gedacht, du hättest es eilig. Komm, wir müssen gehen.«
Ich nickte kurz und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, um die Tränen wegzuwischen. Er hatte recht. Wir durften keine Zeit verlieren. Ich musste ihn so schnell wie möglich töten.
20. Liebe
Callum rannte zur Kathedrale voraus, um die Versunkenen zusammenzurufen. Die Stoßzeit war jetzt in vollem Gange, auf den Gehwegen drängten sich die Menschen in Feierabendlaune. Selbst bei der blassen Sonne waren ihre gelben Auren deutlich zu erkennen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was ich gleich tun würde. Ich wollte es einfach schnell hinter mich bringen. Die Rettungsleute mussten unbedingt seinen Körper im Wasser
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