Nur Ein Toter Mehr
vergessen.«
»Dann endet mein Roman eben nicht wie ein gewöhnlicher Krimi, dafür ist er aber origineller, fantasievoller. Das hat die Wirklichkeit nun mal so entschieden, das ist das Risiko eines realistisch schreibenden Autors.«
»Du spinnst.« Kopfschüttelnd wendet sich Koldobike mir wieder zu. »Und die gestohlene Kette? Der Dieb will ein Krimiende.«
»Vielleicht wollte er sie aber auch nur selbst teuer an Larrea verkaufen.«
»Apropos Larrea: Da hast du doch eine Fährte. Wieso will er genau diese Kette haben? Und außerdem: Warum hatte Ermo sie so lange unter Verschluss? Ich bin mir sicher, dass es da ein Geheimnis gibt, das noch niemand gelüftet hat.«
»Wenn Ermo der Täter wäre, hätte er das Corpus Delicti längst verschwinden lassen.«
»Manchmal ist die Habgier größer als die Angst, entdeckt zu werden.«
»Also gut«, nachdenklich runzele ich die Stirn, »wer wusste sonst noch von dem Versteck? … Eladio Altube! Habe ich dir das eigentlich schon erzählt? Vielleicht hat den Mörder zehn Jahre lang die Frage gequält, wo die Kette abgeblieben ist.«
»Siehst du, damit hast du mehr als genug Fährten. Geh ihnen nach.«
»Bisher basiert alles nur auf Vermutungen, und irgendwo im Hintergrund lacht sich der Mörder ins Fäustchen«, murmele ich verzagt. »Ich brauche Beweise, wenigstens einen einzigen. Bloß: wie bekomme ich den? Soll ich allen Verdächtigen etwa damit drohen, ihnen den Hals umzudrehen, wenn sie nicht auspacken?«
»Die Variante überlass mal lieber dem Blauhemd, der kennt sich damit bestens aus. Sam Esparta macht das anders.«
Ich atme dreimal tief durch.
»Also, strengen wir unsere kleinen grauen Zellen an und fassen zusammen: sämtliche Aussagen, die Widersprüche, was für eine Miene die Befragten dabei gemacht, wie sie sich bewegt haben … Dem stellen wir dann unsere Intuition gegenüber, unsere Vision, wie die Geschichte ausgehen soll, und bringen so Ordnung ins Chaos, sowohl in der Realität als auch in meinem Kopf, Ordnung ist die halbe Miete.«
»Worauf willst du hinaus?«
Koldobike sieht mich verständnislos an; kein Wunder, schließlich weiß sie nicht, dass ich eben einen Geistesblitz hatte.
»Knöpfen wir uns unsere erste Fährte vor. Luis Federico Larrea. Rochelts ›Der Bürgermeister von Tangora‹ ist doch inzwischen eingetroffen, oder? Ruf ihn an und sag ihm, dass er sein Buch abholen kann – und erwähne nebenbei, dass du gern einmal seine Landkarten vom Strand bewundern würdest. Das wird ihm schmeicheln, und so hat er heute Nachmittag gleich etwas vor. Solche reichen Privatiers langweilen sich doch oft.«
»Wird gemacht, Chef.«
»Danke, Puppe.«
Dank Elises und Koldobikes Krankenschwesterdiensten ist die Platzwunde an meiner Stirn inzwischen einigermaßen verheilt und mein Veilchen so weit verblasst, dass ich beides vor meiner Mutter als Resultat eines kleinen Zusammenstoßes mit einer Regalecke abtun und zu Hause mittagessen kann.
Kurz vor fünf bin ich gestärkt und ausgeruht zurück in der Buchhandlung. Ich wasche mir auf der Toilette gerade die Hände, als das Ding-Dong des Glöckchens ertönt. Vorsichtig linse ich um die Ecke.
»Guten Tag.«
Die sanfte Stimme gehört einem rundlichen Mann, der einen dezenten, grau karierten Anzug aus englischem Tuch, ein weißes Hemd, eine schwarze Fliege und eine Hornbrille trägt. Ausgiebig begutachtet er das bestellte Buch, das Koldobike ihm besorgt hat.
»Hervorragend«, höre ich ihn schließlich sagen.
»Soll ich es Ihnen einpacken?«, fragt Koldobike.
»Ja, bitte, wenn’s geht, in dickes Papier.«
Beim Näherkommen fallen mir zwei Dinge auf: dass er den Schein, mit dem er bezahlt, aus einer Börse aus Krokoleder zieht und dass auf Koldobikes Tischchen eine dicke Zeichenmappe liegt. Alles läuft also nach Plan. Bevor er wilde Vermutungen anstellt, stelle ich mich ihm vor.
»Guten Tag, Señor Larrea. Ich bin Samuel Esparta, Privatdetektiv. Koldobike hat mir von Ihrem originellen Einfall erzählt, unsere Gegend in Schritten zu vermessen.«
»Nicht zu vergessen die Zeit, die es braucht, um von A nach B zu gelangen«, erklärt er mit funkelnden Augen, und als er merkt, wie ich auf seine Mappe schiele, fügt er eifrig hinzu: »Ich zeige Ihnen gern meine Karten.«
Schon beugt er sich geschäftig über seine Mappe, weshalb ich schnell eine Hand auf seinen Arm lege, um ihn daran zu hindern, alles vor uns auszubreiten.
»Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang, Señor Larrea? Mich
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