Nur eine Liebe
bedeutete außerdem »allein« und »leer«.
»Es war ein großzügiger Gedanke, aber nicht notwendig.« Und ich verdiente diese Art von Ehre nicht.
Lidea liebkoste die runden Wangen und die kleine Nase des Säuglings. »Es hat mich auf eine andere Idee gebracht.« Eine süßere Erwartung erfüllte den Raum. »Anid klingt ganz ähnlich.«
Mein Herz war voll, als ich die Hand ausstreckte, Lidea mit einem Blick um Erlaubnis bat und dann Anids winzige Hand berührte. Er schien es nicht zu bemerken. »Hallo, Anid. Willkommen auf der Welt.« Meine Stimme zitterte, als ich flüsterte: »Ich freue mich wirklich, dass du hier bist.«
Wir steckten jetzt zusammen in dieser Sache. Keiner von uns war allein. Ausgeschlossen.
Er sah mich mit großen dunkelblauen Augen an. Er war wunderschön, und ich wollte noch nicht gehen, aber hinter mir warteten Leute, daher berührte ich Lideas Hand und dann die von Wend und ließ Sam vor. Während die Schlange sich bewegte, beobachtete ich, wie die anderen sich dem Baby gegenüber verhielten, und versuchte, mir die Gesichter jener einzuprägen, die geblieben waren. Waren sie wohlwollend oder nur höflich?
Nachdem alle bis auf die Geburtsassistentinnen gegangen waren, hielt ich Anid erneut den Finger hin. Seine Faust schloss sich sofort darum.
»Lass dich nicht noch mal von irgendwem einen Seelenlosen nennen«, flüsterte ich ihm zu. »Und wenn es doch einer tut, dann sag mir Bescheid, und ich werde mich für dich darum kümmern.«
Lidea wirkte erheitert. »Verdirbst du ihn schon?«
»Nur ein bisschen.« Ich lächelte, damit sie wusste, dass ich es nicht ernst meinte.
»Ich mache mir Sorgen«, gestand Lidea. »Wegen vorhin, wegen diesem ganzen Gebrüll.« Sie kniff die Augen fest zu, und Tränen schimmerten durch ihre Wimpern. »Was ist, wenn sie versuchen, ihm wirklich etwas anzutun?«
Wend erschien an ihrer Seite und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ihm wird nichts geschehen.« Als Lidea sich zu ihm umdrehte, beugte er sich vor, um sie zu umarmen.
Sam berührte mich am Ellbogen und murmelte: »Können wir gehen?« Ich nickte, und wir verabschiedeten uns, holten unsere Sachen und eilten zum Ausgang.
Als wir nach draußen traten, regnete es wieder, und es war inzwischen vollkommen dunkel. Nur der Tempel glühte und warf ein wässriges Licht über den Marktplatz. Schweigend gingen wir zum südwestlichen Viertel der Stadt zurück, in dem unsere Häuser lagen. Sarit und Stef bogen in ihre Straßen ein, die nicht weit von unserer entfernt lagen.
Als wir im Haus waren und uns abgetrocknet hatten, sagte ich: »Sam«, bevor mir bewusst wurde, dass ich gesprochen hatte.
Er wollte zum Flügel gehen und blieb stehen, und er legte mir eine Hand auf die Hüfte, als er sich zu mir umdrehte. Sams Gesicht lag im Schatten, und seine Augen wirkten noch dunkler, noch geheimnisvoller und schwerer unter der Last von Jahrhunderten. Jahrtausenden.
»Du hast mich einmal einen Schmetterling genannt, weil meine Existenz allen anderen in Heart so flüchtig erscheint.«
Eine Falte bildete sich zwischen seinen Augen. »Ana …«
»Ich weiß, dass du mich damit nicht verletzen wolltest, und ich weiß, dass du dich unzählige Male entschuldigt hast.« Ich schluckte meine Nervosität hinunter. »Das macht meine Existenz nicht weniger vergänglich. Ich könnte sterben und niemals wiedergeboren werden.«
»Bitte, sag das nicht«, flüsterte er.
»Du, Stef, Sarit – andere –, ihr habt das Jahr des Hungers erträglich gemacht. Ich dachte nicht, dass ich Freunde haben könnte, bis ihr mir bewiesen habt, dass ich mich geirrt habe.« Ich legte ihm die Hände auf die Schultern und ließ sie an seinen Armen hinabgleiten. »Aber der Anfang meines Lebens war schrecklich, und die Hälfte der Leute behandelt mich immer noch so, als sei ich für das Tempeldunkel und für jedes andere Unglück seitdem verantwortlich.«
Er senkte den Blick. »Es tut mir leid.«
»Das braucht es nicht. Nichts davon ist deine Schuld. Ich wollte nur sagen, dass ich nicht möchte, dass Anid so aufwächst wie ich.«
»Lidea und Wend werden sich um ihn kümmern. Und wir auch.«
Ich nickte. »Aber das ist nicht genug. Du hast gesehen, was da drinnen vorhin passiert ist. Die Menschen brannten darauf, die Rückkehr eines Freundes zu feiern, und dann war es schrecklich . Binnen Minuten haben die Leute davon gesprochen, ihn zu töten. Wenn das ein Vorgeschmack auf die Reaktion der anderen Bewohner der Stadt auf seine Geburt war,
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