Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nur eine Ohrfeige (German Edition)

Nur eine Ohrfeige (German Edition)

Titel: Nur eine Ohrfeige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christos Tsiolkas
Vom Netzwerk:
dachte er, ich bin ein alter Mann. Sie kam mit einem Stuhl unter jedem Arm aus der Küche zurück. Manolis und Thanassis nahmen dankend Platz. Das Mädchen setzte sich auf den Boden.
    »Das ist meine Enkelin Athena.«
    Er erkannte Thimios in ihr. Sie hatte seine hohen Augenbrauen, die kantigen Wangenknochen und den kleinen runden Mund.
    Koula musterte sie ebenfalls. »Bist du Stellas oder Johns Tochter?«
    »Ich bin das Kind von Stella«, antwortete Athena und wurde rot. Ihr Griechisch war gebrochen.
    »Wir waren gute Freunde«, erklärte Paraskevi und hielt Koulas Hand fest. »Sehr gute Freunde.«
    Sie wandte sich an Manolis. »Was ist passiert? Warum haben wir uns aus den Augen verloren?«
    Diese Frage wurde an jenem Nachmittag noch oft gestellt. Nachdem immer mehr Trauergäste gekommen waren, hatte Manolis irgendwann das Gefühl, die Unterwelt betreten zu haben. Zwischen all den Schatten kam er sich ganz verloren vor, obwohl er selbst einer von ihnen war. Was ist aus dir geworden? Wo hast du gesteckt? Wo wohnst du jetzt? Sind deine Kinder verheiratet? Wie viele Enkel? Yanni Korkoulos war da, der Kioskbesitzer aus der Errol Street. Irini und Sotiris Volougos. Irini hatte mit Koula in einer Textilfabrik in Collingwood gearbeitet, und Sotiris mit Manolis bei Ford. Als die Militärregierung gefallen war, hatten sie sich abends zusammen mit Thimios betrunken und waren dann ins Bordell in der Victoria Street gegangen. Im Sessel gegenüber saß Emmanuel Tsikidis. Seine Frau Penelope war vor zwei Jahren gestorben, wie er Manolis berichtete, an der »bösen Krankheit«, Krebs. Erst der Magen, dann die Lunge. Sie hatten ihr so viel herausgeschnitten, dass sie nur noch ein Skelett gewesen war, als sie starb. Neben Emmanuel saß Stavros Mavrogiannis, nach wie vor mit edlem Antlitz, aber zu fett geworden. Sein dichtes Haar war rabenschwarz. Wahrscheinlich färbte er es. Seine australische Frau Sandra war komplett ergraut und machte sich, anders als die anderen Frauen im Raum, auch nicht die Mühe, es zu verbergen. Sie sah immer noch gut aus. Damals, als junge Männer, waren ihnen die australischen Frauen wie Göttinnen vorgekommen: groß, schlank, blond, amazonenhaft. Was war bloß aus den australischen Mädchen geworden? Heute waren sie alle fett und träge. Sandra war immer noch elegant und voller Anmut. In den Siebzigern hatte sie sie alle überrascht, indem sie perfekt Griechisch gelernt hatte.
    Angesichts der trauernden Witwe verliefen die Gespräche anfangsnoch etwas gestelzt. Es wurde nach den Kindern und Enkelkindern gefragt, und dann wusste man schon nicht mehr recht, worüber man reden sollte. Die Vergangenheit warf einen riesigen, unüberwindbaren Schatten auf sie. Paraskevis Kinder, ihre Nichten und Neffen, waren gekommen, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Sie waren höflich, traurig natürlich, aber dann verschwanden sie wieder in der Küche und waren in ihre eigenen Gespräche verwickelt. Es waren junge Männer und Frauen, weit entfernt vom Tod, und nach einiger Zeit fingen sie an zu lachen und Witze zu machen. Die Enkel spielten draußen, die jüngeren Verstecken, die größeren Fußball. Athena und Stella kamen hin und wieder herein und brachten frischen Kaffee, Tee, Drinks, Cashewkerne und Pistazien. Manolis wollte ein Bier, aber er wusste, dass es zu diesem Anlass nicht unbedingt das angebrachte Getränk war. Stattdessen nahm er einen Whisky vom Tablett. Aus der Küche hörte er die jungen Leute auf Englisch von ihren Reisen erzählen. Einer von Paraskevis Neffen war gerade mit seiner Familie aus Vietnam zurückgekommen.
    Katina, Paraskevis älteste Schwester, schüttelte den Kopf. »Ich hab ihnen gesagt, dass sie verrückt sind«, beschwerte sie sich leise. »Das ist doch der helle Wahnsinn, mit den Kindern in so ein Land zu fahren.« Sie klopfte sich kurz auf die Brust und bekreuzigte sich. »Die Krankheiten, die Armut. Ich hätte ihnen niemals erlaubt, meine Enkel dem auszusetzen.«
    Thanassis reagierte barsch. »Unsinn. Das ist ein wunderschönes Land. Ich war letztes Jahr dort.«
    Sotiris Volouges lehnte sich zurück und sah ihn misstrauisch an. »Du nimmst uns auf den Arm, oder?«
    »Nein, bestimmt nicht. Ich war da. Tolles Essen, tolle Menschen.«
    Katina kicherte. »Hast du Hund gegessen?«
    Thanassis schüttelte den Kopf, dann lachte er. »Katina, Hund habe ich in Athen während der Besetzung gegessen. Ich habe nichts gegen Hund.«
    Die Frauen kreischten entsetzt auf. »Du musstest während des

Weitere Kostenlose Bücher