Nur eine Ohrfeige (German Edition)
»Dad, warum weint die Frau?«
Sie meint mich.
Sie konnte die Worte nicht aussprechen. Rosie wartete.
»Es tut mir leid«, erklärte sie wenig überzeugend. Und dann, mit mehr Leidenschaft: »Ich werde Sandi besuchen. Ich hab es meinem Mann versprochen.« Sie warf ihr einen flehenden Blick zu. »Bitte, Rosie, lass uns das Ganze vergessen.«
Rosie sah sie fassungslos an, als hätte sie selbst eine schallende Ohrfeige kassiert. Sie blinzelte ein paar frische Tränen weg, stand auf, fummelte in ihrer Handtasche herum und warf einen Zehn-Dollar-Schein auf den Tisch. Aisha wollte ihr das Geld zurückgeben, ließ es dann aber liegen.
»Ich scheiß auf dich«, brüllte Rosie. »Ich scheiß auf dich und deinen beschissenen Mann, ich scheiß auf deine Kinder, auf deine ganze perfekte Mittelstandsfamilie. Ich hasse dich.«
Aisha sah ihrer Freundin nach und wischte sich mit einer Serviette die Spucke von der Wange.
Die dicke alte Dame beugte sich zu ihr herüber. »Alles in Ordnung?«
Aisha nickte. »Ja, danke.«
Die Sonne schien unerträglich hell. Die Queens Parade war in übernatürliches Licht getaucht. Sie fühlte sich vollkommen erschlagen. Aber auch glücklich. Sie verspürte ein berauschendes Gefühl der Erleichterung.
Auf dem Heimweg machte Aisha in der Praxis halt. Sie fuhr den Computer hoch und warf einen Blick in den Zwinger. Die Käfige waren makellos sauber und mit Zeitungspapier und frischen Handtüchern ausgelegt. Der Fußboden glänzte. Connie oder Tracey mussten ihn nach der Samstagsschicht poliert haben. Sie setzte sich auf einen Stuhl und sah zu einem der Infusionsgeräte hinüber. Es gab ein Spiel, das sie manchmal spielte, nicht nur, wenn sie traurig oder verunsichert war. Es beruhigte sie. Sie stellte sich vor, wie sie sich umbringen würde, falls sie keinen Ausweg mehr sah. Sie würde an den Medikamentenschrank gehen und eine Sechzig-Milligramm-Spritze mit Lethabarb aufziehen. Das grüne Narkosemittel würde sie in einen Beutel Kochsalzlösung spritzen und ihn dann aufhängen. Sie würde die maximale Tropf-Geschwindigkeit einstellen. Dann würde sie sich einen Venenkatheter legen, wahrscheinlich am linken Arm, und ihn an den Tropf anschließen. Ein smaragdgrüner Tod. Sie würde einschlafen undsterben. Es war immer noch die humanste Methode, ein Tier einzuschläfern, und Menschen waren schließlich auch nur Tiere. Sie war durch ihre Arbeit schon oft genug mit dem Tod in Berührung gekommen und sah nichts Romantisches mehr darin. Sie wusste, dass es immer einen Ausweg gab, und das beruhigte sie. Sie stand auf und ging zurück ins Büro.
Der Bildschirm warf ein pulsierendes silbernes Licht in den Raum. Sie öffnete ihr E-Mail-Programm und klickte Arts Nach- richt an.
Ich kann dich nicht vergessen. Geht es dir auch so?
Es lag ein Versprechen in diesen Sätzen. Sie hatte wieder das Lied im Ohr, das sie schon die ganze Woche vor sich hin summte.
This is a new day, this is a beautiful day
. Sie musste Hector danach fragen. Er kannte es bestimmt.
Sie drückte auf Löschen. Die E-Mail verschwand unbeantwortet im Papierkorb.
Aisha machte das Licht aus, schaltete die Alarmanlage ein, schloss ab und fuhr nach Hause.
Hector war im Garten und verteilte Mulch und Kompost im Gemüsebeet. Die Kinder saßen im Wohnzimmer und sahen sich eine DVD an. Aisha ging in die Küche und zog die Tür hinter sich zu.
RICHIE
Richie, der glaubte, dass die Welt aus der Bahn geraten sei, dass der Äther sich nicht schnell genug ausbreiten könne, um eine Implosion zu verhindern, und dass alles auf ein katastrophales und für den Menschen zumindest verdientermaßen qualvolles Ende hinauslaufe, war sich nur dreier Dinge in seinem Leben sicher. Er war sie in Gedanken durchgegangen, als sein Vater kurz vom Tisch aufgestanden war, um auf Toilette zu gehen. Erstens, dass seine Mutter die beste Mutter auf der Welt war. Zweitens, dass die amerikanische Fernsehserie
Six Feet Under
ein alternatives, besseres Universum darstellte, in dem er sehr viel lieber leben würde. Und drittens, dass er in seinen Freund Nick Cercic verliebt war. Diese drei Dinge waren seine einzigen Gewissheiten. Alles andere war Bullshit, Fake, Lüge. Alles andere zählte nicht. Halt! Es gab noch etwas. Connie war die beste Freundin, die er sich vorstellen konnte.
Er bekam Panik. Vier war eine gerade Zahl. Er mochte keine geraden Zahlen, er traute ihnen nicht. Ihm fehlte ein fünfter Punkt. Er sah sich im Pub um, verzog das Gesicht bei dem Geruch
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