Nur eine Ohrfeige (German Edition)
in die Hand – unauffällig, sodass er es nicht gleich merkte. Wenn sie tagsüber mit Hugo allein war, blieb der Fernseher aus, allerdings durfte er DVDs sehen. Jedes Mal, wenn Gary den Fernseher einschaltete, holte sie ein Buch oder eine Zeitschrift hervor, ein unterschwelliger Protest, von dem er wahrscheinlich nichts mitbekam, der aber vielleicht Einfluss auf Hugo haben würde. Der Fernseher durfte auf keinen Fall Mittelpunkt ihres Zuhauses sein. Sie sah zu ihrem Mann rüber. Gary nuckelte an seinem Bier und starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm. Sie beugte sich vor, griff nach dem alten Meccano-Baukasten, den sie im Secondhandladengefunden hatte, und fing an, einen Turm zu bauen. Hugo ließ ihre Brust los, und, was noch wichtiger war, sein Blick wanderte vom Fernseher zum Turm. Kurz darauf baute er selbst mit. Rosie sah noch einmal zu ihrem Mann. Doch Gary war zu erledigt, um noch irgendetwas mitzukriegen. Er wollte nur noch vergessen.
Es war die richtige Entscheidung, ihm erst am Freitagabend von dem Gerichtstermin zu erzählen. An Werktagen war Gary abends müde und verlor schnell die Beherrschung, wurde wütend und zog alles ins Negative. Wir hätten nie zur Polizei gehen sollen, würde er sie anfauchen, du hast mich dazu gebracht. Wenn am Freitag die Arbeitswoche zu Ende war, konnte sie mit ihm reden, und er würde ihr zuhören. Sie hatte diesen Entschluss gefasst, kaum dass sie den nüchternen Beamtenbrief in den Händen gehalten hatte. Ihr Fall hatte eine Nummer, einen Code: D41/543. Allein deswegen konnte Gary in die Luft gehen. Diese bedeutungslose Nummer stand plötzlich für die alltägliche Ungerechtigkeit des Staates, wahrscheinlich befanden sie sich bereits in den Fängen eines unerbittlichen, repressiven Systems. Und alles war ihre Schuld. Solange Gary am nächsten Tag arbeiten musste, käme er damit nicht klar. Am Freitag dagegen, wenn das Wochenende vor ihm lag, konnte er ganz liebevoll und zärtlich sein.
Shit, dachte Rosie, die ihren Sohn dabei beobachtete, wie er der Schwerkraft trotzend seinen schwankenden Turm baute, ich wünschte, wir hätten mehr Geld.
Sie warf einen kurzen Blick auf den Fernseher. Der Wetterbericht lief, unten stand das Datum. Herrgott, plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter Geburtstag hatte. Sie hätte schwören können, nichts laut gesagt zu haben, und doch sah Hugo von seinem Spiel auf und fragte: »Was ist denn, Mami?« Vielleicht war es albern, ein dummer Aberglaube, aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie Hugos Gedanken lesen konnte und er ihre. Natürlich nicht dauernd, aber eben hin und wieder.
»Nichts, Schatz«, antwortete sie. »Mir ist nur gerade eingefallen, dass deine Großmutter heute Geburtstag hat.«
Seine Großmutter spielte keine Rolle in seinem Leben. Darüber war sie nicht erfreut, aber sie konnte es nicht ändern. In ihrer Familie herrschte kein besonders liebevoller Umgang miteinander, genauso wenig wie in der ihres Mannes.
Wieder überraschte Hugo sie. »Großmutter macht mir Angst. Sie hat mich nicht lieb.«
»Schatz, das stimmt so nicht. Sie hat dich lieb, sie weiß nur nicht, wie sie es zeigen soll.«
Gary schnaubte. Bitte sag jetzt nichts, flehte sie innerlich, ich will nicht, dass Hugo meine Familie hasst.
Ermutigt durch seinen Vater nickte Hugo jedoch zustimmend. »Sie hat mich angebrüllt.«
Wie oft hatte er seine Großmutter gesehen? Dreimal, und beim ersten Mal war er noch kein Jahr alt gewesen, also konnte er sich daran gar nicht erinnern. So bist du, Mutter, dachte Rosie bedauernd, kalt und distanziert. Sie empfand Bedauern, aber keine Schuld. Schon lange verband sie dieses Gefühl mit ihrer Mutter. Es war einfach nur traurig: Ihre Mutter war eine einsame, mürrische alte Frau.
Rosie betrachtete ihren Sohn. Sie wollte sagen: Deine Großmutter ist nicht fähig zu lieben. Aber es ist nicht so, dass sie dich nicht mag. Sie hat einfach nur kein Interesse an dir. Doch er war viel zu jung, um das zu verstehen, also nahm sie ihn und setzte ihn wieder auf ihren Schoß.
»Huges«, sagte sie und küsste ihn auf die Stirn. »Deine Großmutter hat dich ganz doll lieb.«
In Perth war es erst kurz vor sechs, und es dauerte noch ein paar Stunden, bevor die Sonne über dem Indischen Ozean unterging. Aber ihre Mutter folgte einer strengen Routine, sie brauchte das Gefühl eines geregelten Tagesablaufs, und nach halb acht ging sie grundsätzlich nicht mehr ans Telefon. Bei dem Gedanken, ihr eine Nachricht auf dem
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