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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wim Westfield
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kleine Orte, die noch trister und heruntergekommener aussehen als Kleinstädte in der DDR. Jonas versucht mehrfach zu erklären, dass er unbedingt nach Prag wolle. Er hat nur noch zwei Stunden Zeit. Jonas holt hundert DDR-Mark aus dem Portemonnaie, legt sie auf das Armaturenbrett des Jeeps und sagt deutlich: »Praha!«
    Der Soldat macht große Augen. Das scheint viel Geld für ihn zu sein. Sofort nimmt er den blauen Schein und steckt ihn in seine Uniformbluse. Jonas bereut, so voreilig gewesen zu sein. Der Soldat grinst und bietet ihm Kaugummi an. Plötzlich biegt er von der Straße ab und fährt auf eine Kaserne zu. Jonas will die Tür öffnen. Doch der Soldat packt ihn bei der linken Schulter und drückt ihn nach unten. Jonas begreift, dass er abtauchen soll, und duckt sich. Der Soldat wirft rasch eine nach Öl stinkende Decke über ihn. Er hält kurz am Tor zur Kaserne, diskutiert laut, wendet seinen Wagen und fährt zurück zur Hauptstraße. Er zieht Jonas die Decke vom Kopf und signalisiert ihm, dass er wieder auftauchen darf.
    »Okay - PrahaU, ruft der Tscheche, macht das Victory-Zeichen, nimmt kurz den Hunderter aus seiner Bluse, drückt schmatzend einen Kuss darauf und gibt Gas. Sie passieren Karlovy Vary. An der Landstraße sieht Jonas die ersten Wegweiser nach Prag. Der Soldat deutet nach hinten und sagt etwas, das Jonas nicht versteht. Er dreht sich um. Auf der Rückbank liegt eine Maschinenpistole. Jonas zeigt darauf und sieht den Soldaten fragend an.
    »Njema, njema«, lacht der Soldat. Er weist hinter den Sitz des Beifahrers. Dort liegt ein Soldatentornister. Jonas holt ihn nach vorn. Er ist schwer. Der Tscheche nickt. Jonas macht die Tasche auf. Der ganze Tornister ist voller Bierflaschen. Jonas öffnet zwei Flaschen Budweiser. Sie stoßen an und singen gemeinsam, jeder in seiner Sprache, die Internationale.
    Nach dem Bier muss Jonas tief und fest eingeschlafen sein. Als der Soldat ihn wach rüttelt, ist es schon dunkel.
    »Praha. Vaclav namesto!«, sagt der Tscheche.
    Es ist kurz nach 18 Uhr. Der Jeep parkt mitten auf dem Prager Wenzelsplatz. Jonas kann es kaum fassen. Er hat es geschafft!
    Er nimmt seine Tasche aus dem Armeeauto und verabschiedet sich von dem Soldaten wie von einem guten alten Freund. Der Soldat verbeugt sich vor ihm, nimmt ihn in den Arm und macht zum Abschied noch einmal das Victory-Zeichen. Dann braust er davon.
    Jonas sieht sich um. Wie viele Jahre ist er schon nicht mehr hier gewesen? Auf dem Wenzelsplatz pulst laut der Verkehr. Überall blinken Leuchtreklamen, auch von westlichen Firmen. So etwas gibt es in der DDR nicht. Doch die schönste Leuchtreklame ist die auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die in blauer Schrift verkündet: Hotel Europa.
    Er betritt das Foyer. Von Julia ist nichts zu sehen. Er geht auf die Toilette, macht sich frisch und sieht sich noch einmal in der Hotelhalle um. Obwohl er nur eine Viertelstunde zu spät gekommen ist, kann er sie nicht entdecken. Als er an der Rezeption vorbeigeht, spricht ihn ein weißhaariger Herr sehr freundlich in einem wienerisch klingenden Dialekt an.
    »Kann ich Ihnen behilflich sein, junger Mann?«
    »Ich bin verabredet und warte auf meine Freundin.«
    »Sind Sie zufällig Herr Maler aus Deutschland?«
    »Ja, das bin ich. Ist sie schon angereist?«
    Der Rezeptionist greift in ein Regal mit vielen kleinen Fächern hinter seinem Tresen. Er nimmt einen Reisepass, schlägt ihn auf und zeigt Jonas das Bild.
    »Ist das die Dame?«
    »Ja, das ist sie.«
    »Der Schlüssel ist nicht da. Also müsste sie oben sein. Zimmer 9 im ersten Stock, bitte sehr, der Herr.« Dabei zeigt er zu einem alten Lift mit eiserner Scherengittertür.
    Jonas stürzt die Treppe hoch. Klopft an. Die Tür geht auf: Julia! Einen Augenblick später liegen sie sich in den Armen.
    »Mein Gott, du stinkst ja wie ein russischer Soldat.«
    »Unsere tschechischen Waffenbrüder hatten mir freundlicherweise einen russischen Jeep geschickt.«
    Unter der Dusche berichtet Jonas Julia in allen Details, wie er über die Grenze und nach Prag gekommen ist. Sie lachen dabei so herzlich, wie sie noch nie zusammen gelacht haben. Sie trocknen sich gegenseitig ab und legen sich nackt aufs Bett.
    »Willst du unser Baby fühlen?«
    Jonas legt seine Hand auf ihren Bauch.
    »Wird das ein Junge oder ein Mädchen?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Im Westen gibt es doch Ultraschalluntersuchungen.«
    »Da war ich noch nicht. Aber ganz sicher wird es so ein strohblonder Wuschelkopf wie

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