Nur Gutes
Schoß. Simon behaupte bis heute, sagte Dagmar, es sei seine Idee gewesen, die Frau des Bankdirektors im Kirchturm zu verstecken, wo keiner sie vermutete, im Kirchturm erwarte man Entführte zuletzt.
‹Jetzt sollte Albert bald kommen, es ist halb zwölf, und bis zum Nordbahnhof, mit dem Auto, braucht er zehn Minuten.›
Am besten nimmt er sie mit zum Bahnhof -
‹Anna›, fragte Dagmar, ‹die Sache mit dem Kirchturm, war das Simons Idee?›
‹Wir waren noch Kinder. Aber es lief ohnehin schief. Es ist lange her, Frau Mangold, ich möchte darüber nicht reden.›
Anna lächelte.
‹Weshalb lachen Sie?›, fragte Dagmar.
Anna drehte das Gesicht zur Tür zwischen Fenster und Schrank.
‹Da drin›, sagte sie, ‹schrieben wir die Rede des Bankdirektors. Die sollte er am Fernsehen halten, damit er seine Frau wiederbekam. Dass er ein Lakai der Hochfinanz sei und solche Dinge, ich weiß es nicht mehr, eine Selbstanklage, wie sie damals Mode war, drei Minuten Text vor der Tagesschau. Es ging schief, alles und sowieso.›
Was mein Vater war:
undurchschaubar
unzugänglich
vernünftig
kein Blender & kein Raser
(übertrieben gesagt:) autistisch
warmherzig
Früher war an der Kepplergasse die Tierhandlung Visconti. Wenn mein Vater Albert von der Schule kam, blieb er davor stehen und sah ins Schaufenster, Springmäuse, Hamster, Kaninchen, blind und kaum geboren,Fische in Aquarien, Meerschweinchen, strubbelig oder glatt. Albert stand vor der Tierhandlung, sah durchs Glas, klopfte leise an die Scheibe, streichelte die Scheibe und dachte sich Namen aus für die Tiere, die ihm nicht gehörten, Braunchen für das braune, Rotchen für das rote, Weißchen, Schüchternchen, Schnellchen, Liebchen, Mütterchen, Väterchen.
Haare und Federn ertrage ich nicht, entschied der Vater. Was ist nur los mit dir?, fragte die Mutter, wenn Albert von der Schule kam, nichts aß, nichts redete.
Nichts, sagte Albert.
Weißchen war fort, verkauft.
Dann Braunchen, verkauft, schließlich Schnellchen. Die Mutter, in Sorge um ihr stummes Kind, besprach sich mit Alberts Lehrerin, brachte Albert dann zum Arzt. Der Arzt untersuchte, sah Albert in den Rachen, in die Ohren, prüfte Lunge und Herz, Albert war zwölf und schämte sich, der Arzthelferin einen Becher zu reichen, warmer Urin darin.
Rotchen, verkauft.
Die Mutter, gut gelaunt, fragte eines Tages: Kinder, was ist euer größter Traum?
Skilehrerin werden, sagte Alberts Schwester Cecile. Die Mutter lachte.
Und deiner, Albert?
Ein Tier.
Aber du weißt doch, dass Papa.
Ein Tier!, schrie Albert.
Ich verspreche dir, irgendwann bekommst du dein Tier,sagte die Mutter und zog Albert auf den Schoß, er entwand sich. Albert rannte in sein Zimmer und schrieb auf einen Zettel: Heute hat meine Mutter versprochen, mir ein Tier zu schenken.
Er setzte das Datum hinzu, ging zu seiner Mutter, die in der Küche saß, Wein neben sich, und reichte ihr den Stift: Unterschreib, wenn du nicht lügst.
Die Mutter unterschrieb: Elisabeth Mangold, aus Liebe zu ihrem Sohn.
Monate später, die Mutter war gestorben, klebte Albert den Zettel, bevor er zur Schule ging, an die Tür seines Vaters. Ängstlich kam er nach Hause, er dachte, vielleicht zieht er mir nun die Hose vom Hintern und schlägt seine krüppelige Hand darauf, bis ich schreie. Der Vater stand in der Küche, er kochte, schwieg.
Am nächsten Abend leuchtete ein Aquarium in Alberts engem Zimmer, ein Zettel war ans Glas geklebt: Für Albert M., Traumfischer.
Albert hätte den Vater gern geküsst.
Guppys, pass gut auf sie auf, sagte der Vater.
Albert schloss sich in sein Zimmer und begann zu zählen. Zwei gelbe mit rötlichem Bauch, ein gelber mit eher grünem Bauch, zwei grüne mit rötlichem Bauch, ein rötlicher mit grauem Bauch, ein blauer mit grünlichem Bauch, ein grüner mit gelbem Bauch, aber blauem Kopf. Flossen aus Seide und Silber.
Stundenlang saß Albert vor den Fischen, Watte in den Ohren, um nichts zu hören, nur das Rauschen des Meeres. Sein Aquarium, billige italienische Ware, hatte einePumpe und eine Lampe, die ständig liefen, nie zur gleichen Zeit, die eine oder die andere, laut oder grell, Albert hatte die Wahl.
Entschied sich Albert, wenn er schlafen wollte, für die Pumpe, war kein Licht, das ihn schützte. Wählte er das Licht, erstickten vielleicht die Fische.
In den Kisten meines Vaters wühlend, um Stoff für diesen Abschied zu sammeln, fand ich ein kleines schmales Buch, Zierfische – wie man sich lange an
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