Nur Gutes
dunkel ist?›
Albert setzte sich auf das Küchensofa, legte die Hände flach aufs Leder.
‹Möchtest du, dass ich dir das Glas Wasser bringe?›, fragte Dagmar.
‹Schon gut.›
Dagmar sah zum Fenster, zu Anna, zum Fenster.
Dieses Brennen zwischen den Schulterblättern, dort, wo keine Hand hinkommt -
Man war in die Berge gefahren, Dagmars Eltern, die drei Brüder, Andreas, Bertram, Claudius, und Dagmar, Familie Schorff, er, Werner Schorff, Rektor der städtischen Berufsschule von Lutterlob, sie, Sibylle Schorff, Mutter und, trotz des Klumpfußes, mit dem sie geboren war, gelegentliche Organistin. Das Haus stand an einem kleinen grünen See, zu kalt, um darin zu baden in diesem Herbst. Dagmars Vater verfügte Wanderungen, jeden Tag eine andere, einmal um den See, einmal am Fluss, dann tiefer ins Tal oder höher auf einen Hügel, in der Gondelbahn zurück. Die Mutter blieb im Ferienhaus, las Bücher und kochte, telefonierte mit ihren Freundinnen in Lutterlob. Abends saß man am Tisch und warf Würfel, Mensch ärgere dich nicht oder Fang den Hut, Dagmars Vater schaute zu, wie seine vier Kinder spielten, die Mutter zog den großen italienischen Weintrauben, die sie gekauft hatte, die Haut ab, Beere um Beere, Häute ekelten sie. Sie sagte: Heute habe ich Frau Horvath angerufen. Frau Horvath sagt, unter den Briefen im Kasten sei keiner vom Gymnasium.
Frau Horvath war die Putzfrau der Schorffs, eine Nachbarin, und kümmerte sich, wenn die Familie unterwegs war, um Haus und Katze.
Irgendwann kam eine Schwester des Vaters zu Besuch, Dagmars Tante Nora, sie brachte Kuchen mit, Kuchen aus Kastanien.
Unser Claudius ist ein Frühreifer, flüsterte Dagmars Vater, gut gelaunt.
Die Mutter sagte: Werner, bist du sicher, Werner, dass das hierhergehört?
Warum nicht?, sagte der Vater und hörte zu flüstern auf.
Claudius, gerade zwölf geworden, schreibe heimliche Briefchen, Liebesbriefchen an ein Mädchen seiner Klasse, wo er, der Claudius, seinen Geist doch besser darauf verwendet hätte, den Übertritt ans Gymnasium problemlos zu vollbringen, noch sei ungewiss, ob er den Sprung schaffe, noch sei der Bescheid nicht eingetroffen, morgen vielleicht, oder übermorgen, brieflich, im Lauf der Woche.
Du riechst so gut, schreibt er diesem Mädchen. Oder: Du hast schöne Kleider an.
Süß, sagte Dagmars Tante Nora.
Sibylle fand die Briefchen in seinem Kissen, lachte der Vater.
Aber er weiß nichts davon, sagte die Mutter, kann er gar nicht wissen.
Das Ferienhaus am kalten grünen See hatte drei Schlafzimmer, eins für die Eltern, eins für Andreas und Bertram,eins, darin ein breites Bett mit nur einer Matratze, für Claudius und Dagmar.
Claudius konnte nicht schlafen, seit Monaten schlief er spät ein, drehte den Kopf von einer Seite auf die andere, hin, her, eine halbe Stunde lang.
Hör auf, deinen Kopf zu bewegen, sagte Dagmar, ich kann nicht schlafen, wenn du ständig wippst, alles zittert, das ganze Bett.
Wenn ich meinen Kopf nicht bewege, schlafe ich nicht ein, sagte Claudius.
Sie begannen zu streiten.
Claudius sagte: Wenn du mich den Kopf bewegen lässt, erzähle ich dir eine Geschichte.
Gut, sagte Dagmar.
Was soll darin vorkommen?
Ich, sagte Dagmar.
Ein Mädchen namens Dagmar war verliebt in einen Jungen, begann Claudius und drehte den Kopf von einer Seite auf die andere. Dieses Mädchen Dagmar war sehr schön, es roch nach Kamillenseife, und es trug die schönsten Kleider. Aber der Junge war schüchtern, zu schüchtern.
Dagmar schlief, als Claudius zu erzählen aufhörte.
Am anderen Morgen rief die Mutter zu Hause an, schickte die Putzfrau, Frau Horvath, wieder zum Briefkasten, sie möge Ausschau halten nach einem Brief des Gymnasiums, denn Claudius, womöglich, sei durch die Prüfung gerasselt.
Schließlich, nach vier Nächten, wusste Claudius keineGeschichten mehr, die er Dagmar hätte erzählen können, zum Lohn dafür, dass er seinen Kopf bewegen durfte auf der großen breiten Matratze.
Nachts hörte Dagmar ihn wimmern und wagte nicht zu fragen, weshalb.
Dagmar hörte Claudius weinen, ihren Bruder, ein Jahr älter als sie, Dagmar machte ins Ferienbett.
Es klingelte an der Tür.
‹Die Schlüssel!›, flüsterte Albert, ‹man bringt die Schlüssel. Anna, es ist besser, man sieht Sie hier nicht.›
Anna stand am Tisch, sofort weiß im Gesicht, und zog den Verschluss des kleinen schwarzen Rucksacks.
‹Versteck sie, Dagmar.›
‹Wo denn?›
‹Irgendwo.›
Anna sah zu Dagmar.
Dagmar
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