Nur noch diese Nacht
Jahren vor der Galerie getroffen hatte. Das junge Mädchen war am Boden zerstört gewesen, weil sein Freund ihm die Welt versprochen und es nach New York gelockt hatte, um es dann mit siebzehn Dollar im Regen stehen zu lassen, nachdem er eine Frau kennengelernt hatte, die „ihn und seine Vision verstand“. Daraufhin hatte Claire ihr einen Job in der Galerie gegeben und ihr geholfen, das College abzuschließen. Und Sally hatte sie nicht enttäuscht und sich mächtig angestrengt. Im Lauf der Jahre waren sie Freundinnen geworden, mehr als nur Chefin und Angestellte. Claire war immer „die große Schwester“ gewesen … doch nun schienen die Rollen vertauscht zu sein.
Wie sollte sie Sally erklären, weshalb sie sich so hoffnungslos zu Ryan hingezogen fühlte? Bisher hatte sie noch keinem Menschen gestanden, dass er der einzige Mann in ihrem Leben war. „Bei Ryan ist alles anders, Sally. So wie wir auseinandergegangen sind, bleibt zwischen uns alles offen.“
Damals hatte Ryan ihr alles bedeutet: die Sonne am Morgen, das Lachen in der Mittagssonne, Liebe in sternenübersäten Nächten. Doch nach der Fehlgeburt hatte sie seine Nähe nicht mehr ertragen, sich ihm nicht mehr anvertrauen, ihm nicht sagen können, wie schrecklich es in ihr aussah. Ihr Herz war gebrochen, sie hatte sich körperlich und seelisch gegen Ryan abgeschottet und nur noch Trauer und Verbitterung empfunden. Scham, Kummer und Zorn hatten sie innerlich so zerfressen, dass sie sich von ihm und allen zurückgezogen hatte. Damals hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, als ohne einen Blick zurückzugehen. Bis heute wusste sie nicht, ob Ryan erleichtert gewesen war oder sich verraten gefühlt hatte, nachdem sie gegangen war.
„Und was willst du jetzt tun?“, fragte Sally.
Das war die große Frage. Vielleicht gar nichts. Vielleicht versuchte sie einfach, den Abschied nachzuholen, um den sie sich beide gedrückt hatten.
Ihr Schweigen sagte Sally genug. „Claire, ruf deinen Anwalt an und lass ihn die Verhandlungen übernehmen. Du machst einen großen Fehler.“
„Wie kannst du das sagen? Du kennst Ryan ja nicht mal, hast uns nie zusammen erlebt. Glaube mir, wir gehen die Sache mit offenen Augen an.“
„Ich glaube, dass es dich weit schlimmer erwischt hat, als du denkst. Und ich muss Ryan nicht kennen, um zu wissen, dass er eine Gefahr für dich und deinen Seelenfrieden darstellt. Ich kenne dich und deinen Gesichtsausdruck, wenn du sein Foto wieder einmal auf der Titelseite eines Boulevardblatts entdeckt hast.“
Aufgebracht stand Claire vom Sofa auf. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest, Sally. Ja, ich liebe Ryan und werde nie aufhören, ihn zu lieben, aber das heißt nicht, dass ich mir Illusionen über eine gemeinsame Zukunft mache. Mit Ryan läuft nichts mehr. Schluss. Aus!“
„Ihr habt eine Affäre. Ihr seid ein Liebespaar.“
„Nur, bis wir die Aufteilung des Vermögens abgeschlossen haben.“
„Und dann? Wirst du zusehen, wie er davongeht, während dir wieder das Herz bricht?“
„Nein. Wir werden beide davongehen.“
„Und deine Gefühle?“ Sally seufzte. „Du bist nicht der Typ für Affären, Claire. Bei dir geht so etwas zu tief. Wie kannst du ständig mit dem Mann zusammen sein, den du immerhin aus Liebe geheiratet hast, ohne dass die alten Gefühle wieder aufflammen?“
„Weil ich klüger geworden bin!“, wehrte Claire etwas zu scharf ab. Sie wollte sich keine Fragen, Bedenken oder Warnungen mehr anhören! Und wenn Sally tausend Mal recht hatte, sie wollte es nicht wissen.
Es folgte eine Pause, dann erwiderte Sally resigniert: „Tja, da bleibt mir nur zu hoffen, dass du weißt, was du tust.“
„Das weiß ich.“
Ein paar Minuten später beendeten die Freundinnen das Telefonat.
Claire legte den Hörer auf und kehrte ans Fenster zurück. Nachdenklich blickte sie in die Nachbarschaft hinaus, wo die Schneedecke immer dicker wurde. Sie wirkte so frisch und einladend, doch nur ein Dummkopf würde unbekümmert hineinspringen. Denn unter der lockenden Oberfläche lagen die Eisreste des Winters.
Claire schloss die Augen und bog den Kopf zurück, um die Nackenmuskeln zu lockern. Sie wollte nicht an den Schnee denken, hätte am liebsten die nächste Maschine nach Kalifornien genommen, um sich im Sonnenschein, der Weite des Meeres, den steilen Hügelketten zu verlieren. Und natürlich in Ryans Armen.
Zwei Nächte hatten sie miteinander verbracht. Und einen unglaublichen Tag. Entsprechend wenig waren sie mit der
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