Nur wenn du mir vertraust - Crombie, D: Nur wenn du mir vertraust - Now May You Weep
andere war.
Mit sechzehn hatte sie ihre Mutter verloren; sie war einer langwierigen Lungenkrankheit erlegen, die kein Arzt hatte heilen können, auch Livvys Vater nicht. Livvy hatte wild und leidenschaftlich um sie getrauert, abwechselnd von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt und von einer so entsetzlichen Leere erfüllt, dass sie glaubte, dieser gähnende innere Abgrund müsse sie unweigerlich verschlingen.
Doch auf Charles’ Tod hatte sie mit einer Art schockierter Benommenheit reagiert, mit einer inneren Kälte, die sich Tag für Tag weiter ausbreitete und wie der Schnee an den Hängen der Braes auf ihren Gliedern lastete. Sie fühlte sich matt, schwach und klein, als ob ihre Seele zu einem harten, schweren Klumpen in ihrer Brust erstarrt sei.
Und verborgen unter dieser brüchigen Schale ein Kern von Schuld – denn Livvy wusste, dass sie selbst für Charles’ Tod verantwortlich war.
Sie hatte ihn nicht genug geliebt. Sie hatte ihn gemocht und respektiert, ja bewundert, und zwischen ihnen hatte sich eine angenehme Vertrautheit und eine gegenseitige Abhängigkeit herausgebildet. Doch Leidenschaft hatte sie nie für ihn empfunden, und es war genau dies, was ihn fester an sie und an Will hätte binden können. Hatte er ihr Versagen erkannt, als er ihr zum letzten Mal in die Augen geblickt hatte?
Ende März ging der Schnee in Regen über. Der bereits durchweichte Boden wurde schwammig vor Feuchtigkeit; das Wasser sickerte und rann von den Bergen herab und sammelte sich in dem schnell dahinfließenden Crombie Burn. Die Dorfkinder schwärmten zum Spielen aus wie Kaninchen, die aus ihren Löchern hervorkriechen, und die Gespräche der Männer wandten sich der Aussaat zu.
Livvy wurde von schmerzlichen Ahnungen erfasst, als spürte sie die neuen Möglichkeiten, die zwischen den grünen Schösslingen in der Erde warteten, und das Gefühl ängstigte sie. Und so versuchte sie, gar nicht zu denken und sich in die Arbeit im Haus und – gemeinsam mit Will – in der Brennerei zu stürzen.
Sie übte sich darin, jeden Augenblick wie eine Perle in ihrer Hand festzuhalten, doch unweigerlich entglitten sie ihr einer nach dem anderen. Und dann, eines Morgens, als die Sonne schien und eine sanfte Brise aus Osten wehte, kam ein Mann mit rötlichem Haar auf einem kastanienbraunen Pferd aus dem Dorf heraufgeritten, und sie erkannte ihn.
Louise stahl sich zur Vordertür hinaus, während John ein verspätetes Frühstück für die Gäste zubereitete. In der Spülküche waren immer noch zwei Beamte der Spurensicherung in weißen Overalls bei der Arbeit, und die Gäste hielten sich in der Diele und im Wohnzimmer auf – das Esszimmer, in dem sie von Chief Inspector Ross vernommen worden waren, schienen sie alle zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.
Sie hatte John um die Schlüssel des alten Landrovers gebeten – ihr eigenes Auto aufzugeben war eines der Opfer gewesen, die sie hatte bringen müssen, als sie an diesen gottverlassenen Ort gezogen waren. Auf seine Frage, wozu sie den Wagen brauche, hatte sie geantwortet, sie müsse noch Kekse für den Nachmittagstee besorgen. Sonst hatte sie niemandem gesagt, was sie vorhatte. Der Posten vor der Haustür hatte ihr zugenickt und sie ohne weiteres durchgelassen.
Der Sprühregen war so fein und dicht, dass es sich anfühlte, als ginge sie durch eine Wand aus Wasser – und sie hatte ihren Schirm vergessen. Als sie beim Wagen ankam, war sie bereits so gründlich durchnässt, als habe man sie aus dem Fluss gezogen.
Es gab englischen Regen und schottischen Regen, so hatte die Erfahrung sie gelehrt, und der schottische Regen war grundsätzlich nasser und kälter.
Was war bloß in sie gefahren, als sie vor Jahren ihr Leben in London aufgegeben hatte, um hierher zu kommen? Es war natürlich Hazel gewesen, die sie dazu überredet hatte; die einzige Frau, die sie jemals wirklich als ihre Freundin angesehen hatte. Und jetzt war Hazel zurückgekehrt und hatte wieder einmal alles auf den Kopf gestellt.
Wie hatten sie nur Hazel abführen können? Jedes Mal, wenn Louise darüber nachdachte, lief sie gegen eine Wand, als habe dieser jüngste Schock in ihrem Kopf eine unüberwindbare Barriere entstehen lassen. Das konnte doch nicht wahr sein – nichts von alldem konnte wahr sein. Donald konnte unmöglich tot sein. Sie sah den kastenförmigen Umriss des Leichenwagens, der in der Einfahrt parkte. Der Anblick schnürte ihr die Kehle zu, und sie wandte sich ab.
Und John – wo war John heute
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