Nur zu deinem Schutz (German Edition)
ganz genau, dass das nicht stimmte. Ich hatte mit meinem Vater im Wagen gesessen. Ich hatte gesehen, wie er starb. Andererseits … wer so etwas sagt, muss damit rechnen, dass er seine Behauptung erklären muss.
Ich schlich auf Zehenspitzen über das rissige Linoleum und kam an einem Tisch vorbei, auf dem eine rot-weiß karierte Decke lag, wie man sie aus italienischen Restaurants kennt. In der Mitte standen ein Salz- und ein Pfefferstreuer, deren Inhalt völlig verklumpt war. Von der Küche aus trat ich in einen langen Flur mit einer Wendeltreppe am Ende, die in den ersten Stock führte.
Wo sich zweifelsohne das Schlafzimmer der Hexe befand.
»Hallo?«
Keine Antwort.
Ich setzte einen Fuß auf die erste Stufe, als mir wieder diese Bilder durch den Kopf schossen – die, in denen sich die Hexe gerade umzog oder unter der Dusche stand. Oh-oh. Nein, ich würde da lieber nicht hochgehen. Zumindest nicht jetzt.
Stattdessen entschied ich mich für das Wohnzimmer. Es war dunkel. Vorherrschender Farbton: braun. Durch die verdreckten oder mit Holzlatten verrammelten Fenster drang kaum Tageslicht. In einer Ecke ragte eine Standuhr auf, die ebenfalls stehen geblieben war. Mein Blick fiel auf eine uralte Stereoanlage. Ich glaube, früher hat man dazu Hi-Fi-Turm gesagt. Ganz oben war ein Plattenspieler, daneben lehnte eine lange Reihe von Schallplatten. Ein paar Alben waren halb herausgezogen, sodass ich die Cover sehen konnte – Pet Sounds von den Beach Boys, Abbey Road von den Beatles, My Generation von The Who.
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie die Hexe in diesem düsteren Zimmer alte Rockplatten hörte. Die Vorstellung war einfach zu absurd.
Zwischendurch blieb ich stehen und lauschte. Nichts. An einer Wand des Zimmers befand sich ein riesiger Kamin, dessen Feuerstelle total verrußt und voller angebranntem, vergilbtem Zeitungspapier war. Auf dem Sims stand ein gerahmtes Foto, sonst nichts. Ich wollte es mir gerade näher anschauen, als mein Blick von etwas anderem abgelenkt wurde.
Auf dem Plattenspieler lag eine Platte.
Ich ging hin und stellte fest, dass ich sie ziemlich gut kannte. Die Platte, die die Hexe offensichtlich zuletzt aufgelegt hatte, hieß Aspect of Juno und war von einer Band namens HorsePower. Meine Eltern hatten sie früher oft gehört. Vor etlichen Jahren, als Mom und Dad sich gerade kennengelernt hatten, war meine Mutter mit Gabriel Wire und Lex Ryder, den beiden Typen, die HorsePower gegründet hatten, befreundet gewesen. Wenn Dad unterwegs gewesen war, hatte ich Mom manchmal dabei ertappt, wie sie sich allein ihre Platten anhörte und dabei weinte.
Ich schluckte. Ein Zufall?
Was sonst. HorsePower war immer noch eine bekannte Band. Viele Leute hörten ihre Musik. Was war also dabei, wenn eines ihrer Alben zufällig auf dem Plattenspieler der Hexe lag?
Nichts. Außer dass ich nicht wirklich an solche Zufälle glaubte.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Foto auf dem Kaminsims. Als ich davor stand, nahm ich den Rahmen in die Hand und pustete den Staub vom Glas. Dämliche Idee. Der aufgewirbelte Staub drang mir in Nase und Augen, ich musste niesen und meine Augen fingen an zu tränen. Blinzelnd blickte ich auf das Foto hinunter und wartete, bis ich wieder richtig sehen konnte.
Auf dem Bild war eine Gruppe Hippies zu sehen.
Genauer gesagt waren es fünf Hippies: drei junge Frauen und zwei Männer, die jeweils zwischen den Frauen standen. Alle hatten lange Haare, trugen Schlaghosen und hatten sich bunte Ketten um den Hals geschlungen. Die Frauen hatten sich Blumen in die Haare geflochten und die Männer hatten zottelige Bärte. Das Bild war alt – ich schätzte, dass es irgendwann Ende der Sechzigerjahre aufgenommen worden war –, und die fünf sahen aus wie Studenten, jedenfalls waren sie in dem Alter. Sie erinnerten mich an die Hippies in einer Doku über Woodstock, die ich mal gesehen hatte.
Obwohl das Foto über die Jahre verblasst war, konnte man noch erkennen, dass die Farben einmal total intensiv und leuchtend gewesen sein mussten. Die fünf standen vor einem Backsteingebäude und strahlten in die Kamera. Sie hatten alle Batik-T-Shirts mit einem seltsamen Symbol auf der Brust an. Zuerst dachte ich, es wäre ein Peace-Zeichen, aber als ich es mir genauer anschaute, sah es eher wie ein zerfledderter Schmetterling aus. Ich habe mal etwas über den Rorschach-Test gelesen, bei dem Menschen sagen sollen, was sie in einem Tintenklecks sehen, und jeder erkennt etwas anderes
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