Nur zu deinem Schutz (German Edition)
staunte sie. »Du weißt, wie man damit eine Tür öffnet?«
»Nein, aber du kennst das doch sicher auch aus dem Fernsehen. Man muss sie durch den Spalt zwischen Türpfosten und Tür ziehen.«
Sie runzelte die Stirn. »Und du glaubst, das funktioniert?«
»Normalerweise hätte ich nicht viel Hoffnung«, sagte ich. »Aber schau dir mal das alte Schloss an. Das sieht aus, als würde es schon nachgeben, wenn ich nur einmal zu fest draufpuste.«
»Okay, aber vielleicht solltest du die Aktion erst mal zu Ende denken.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, angenommen, die Tür geht auf«, sagte Ema. »Was machst du dann?«
Das würde ich entscheiden, wenn es so weit war. Ich schob die Kreditkarte in den Spalt, ließ sie mit viel Fingerspitzengefühl nach unten gleiten, spürte einen Widerstand und verstärkte den Druck. Nichts passierte. Ich wollte gerade aufgeben, als die Tür so laut quietschend aufschwang, dass das Geräusch sicher auch noch im Wald hinter uns zu hören war.
»Wow«, sagte Ema noch einmal.
Ich stieß die Tür ganz auf. Diesmal schreckte das Quietschen ein paar Vögel auf, die schimpfend davonflogen. Ema legte mir eine Hand auf den Arm. Ich senkte den Blick und sah, dass ihre Nägel schwarz lackiert waren und sie an jedem Finger einen Ring trug. Auf einem war ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen.
»Das ist Einbruch«, warnte sie mich.
»Willst du die Polizei rufen?«, fragte ich.
»Bist du bescheuert?« Ihre Augen funkelten vor Abenteuerlust. Plötzlich sah sie richtig süß aus, fast wie ein kleines Mädchen. Als ich dann auch noch die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht entdeckte, zog ich überrascht eine Braue hoch. Sofort kehrte der mürrische Ausdruck zurück und sie zuckte mit gespielter Gleichgültigkeit die Achseln. »Nein, das ist schon okay.«
Das war es natürlich nicht. Es war sogar ziemlich daneben, aber das Bedürfnis, irgendetwas zu tun, war einfach stärker als mein Unrechtsbewusstsein. Und was riskierte ich schon? Die alte Frau, die hier wohnte, hatte mir morgens ein paar seltsame Sachen gesagt, und ich war wiedergekommen, um mit ihr darüber zu sprechen. Als sie mir nicht aufmachte, hatte ich mir Sorgen gemacht und beschlossen, mich zu vergewissern, ob alles in Ordnung war. So würde meine Version der Geschichte lauten. Dafür konnte man mich ja wohl schlecht einsperren, oder?
»Vielleicht wäre es besser, wenn du jetzt nach Hause gehst«, sagte ich zu Ema.
»Träum weiter.«
»Na gut. Ich könnte jemanden gebrauchen, der für mich Schmiere steht.«
»Ich würde aber lieber mit reinkommen.«
Ich schüttelte den Kopf.
Ema seufzte. »Schön. Ich stehe Schmiere.« Sie zog ihr Handy heraus. »Deine Nummer?«
Ich gab sie ihr.
»Ich stelle mich da drüben hin. Wenn ich sehe, wie sie auf ihrem Besen angeritten kommt, schicke ich dir eine SMS . Hast du dir eigentlich überlegt, was du machst, wenn sie zu Hause ist und irgendwo da drin im Dunkeln auf dich lauert?«
Ich sparte es mir, darauf zu antworten, musste aber im Stillen zugeben, dass ich an diese Möglichkeit nicht gedacht hatte. Was würde die Hexe machen, falls sie tatsächlich da drin auf mich wartete. Mich anspringen? Ich bin fast zwei Meter groß und ziemlich kräftig. Sie ist eine kleine alte Frau. Also bitte.
Ich trat ein, sah mich um und stellte fest, dass ich mich in der Küche befand. Die Tür ließ ich sicherheitshalber offen stehen. Ich wollte schnell abhauen können, falls … na ja, man konnte nie wissen.
Die Küche stammte aus einer anderen Epoche. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich einmal zusammen mit meinem Vater eine Wiederholung von The Honeymooners angeschaut habe, einer Sitcom in Schwarz-Weiß aus den Fünfzigerjahren. Ich fand sie nicht besonders witzig. Der Humor der Serie schien hauptsächlich darin zu bestehen, dass ein gewisser Ralph ständig damit drohte, seine Frau Alice körperlich zu misshandeln. Jedenfalls hatten Ralph und Alice einen Kühlschrank – wenn es denn ein Kühlschrank war –, der exakt so aussah wie der in dieser Küche. Der Linoleumboden war so vergilbt wie die Zähne eines Kettenrauchers. Eine Kuckucksuhr an der Wand war genau in dem Moment stehen geblieben, als das Vögelchen aus seinem kleinen Fenster geschaut hatte. Es sah ein bisschen so aus, als würde es frieren.
»Hallo?«, rief ich. »Jemand zu Hause?«
Stille.
Ich hätte einfach wieder gehen sollen. Im Ernst. Wonach suchte ich überhaupt?
Dein Vater ist nicht tot. Er lebt.
Einerseits wusste ich
Weitere Kostenlose Bücher