Nur zu deinem Schutz (German Edition)
es um den Holocaust ging.«
Ich ließ die Gabel sinken, die ich mir gerade in den Mund stecken wollte. »Um den Holocaust? Aber das war im Zweiten Weltkrieg. Das ist doch schon total lange her.«
»Auf der Seite gab es einen Verweis auf eine Gruppe jüdischer Kinder, die aus Vernichtungslagern entkommen waren und sich dem polnischen Widerstand angeschlossen hatten. Sie haben sich in den Wäldern versteckt und im Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Das muss man sich mal vorstellen – Kinder! Sie haben Lebensmittel und andere lebensnotwendige Dinge in das Ghetto von Lodz geschmuggelt und es manchmal sogar geschafft, Kinder zu retten, die auf dem Weg nach Auschwitz waren. Du weißt, das war das größte und berüchtigtste Vernichtungslager der Nazis.«
Ich versuchte, das Gehörte zu verarbeiten, während Ema einen tiefen Schluck von ihrem Milchshake nahm. »Ich kapiere es immer noch nicht«, sagte ich schließlich. »Was hat das mit dem Grabstein im Garten der Hexe zu tun?«
»Du hast doch bestimmt schon mal was von Anne Frank gehört, oder?«
Ich hatte nicht nur Das Tagebuch der Anne Frank gelesen, sondern mit meinen Eltern sogar das Haus in Amsterdam besichtigt, in dem sie sich jahrelang mit ihrer Familie vor den Nazis versteckt hatte. Ich war damals zwölf gewesen, und mir sind besonders zwei Dinge in Erinnerung geblieben: das Bücherregal, hinter dem sich der Zugang zu dem Versteck der Familie Frank im Hinterhaus verbarg, und das Zitat, das auf einem Schild stand, das man sah, wenn man dieses düstere Denkmal wieder verließ: »Es ist ein Wunder, dass ich all meine Hoffnungen noch nicht aufgegeben habe, denn sie erscheinen absurd und unerfüllbar. Doch ich halte daran fest, trotz allem, weil ich noch stets an das Gute im Menschen glaube.«
»Natürlich habe ich von ihr gehört«, sagte ich.
»Es gab noch ein anderes Mädchen, das ähnlich bekannt ist wie sie. Eine dreizehnjährige Polin, die Lizzy Sobek hieß. Sie konnte aus Auschwitz fliehen und hat sich dem Widerstand angeschlossen.«
Der Name sagte mir etwas. »Ich glaube, ich habe schon mal irgendetwas über sie gelesen.«
»Vielleicht in der Schule. Wir haben jedenfalls in der achten Klasse in Geschichte über sie geredet, als wir den Zweiten Weltkrieg durchgenommen haben. Die Familie von Lizzy Sobek wurde in Auschwitz getötet, aber sie konnte irgendwie entkommen. Sie soll Hunderten von Menschen das Leben gerettet haben. Es gibt einen dokumentierten Fall, da hat sie zusammen mit anderen einen Überraschungsangriff auf einen Deportationszug organisiert, dank dem über fünfzig Gefangene in die verschneiten Wälder entkommen konnten. Die Geretteten waren fast alle Kinder unter fünfzehn Jahren und einige von ihnen haben später erzählt …«, Ema hielt inne und holte tief Luft, »… dass sie auf ihrer Flucht Schmetterlinge gesehen hätten.«
Ich schluckte. »Schmetterlinge?«
Sie nickte. »Im Februar. In Polen. Schmetterlinge. Hunderte von Schmetterlingen, die sie in Sicherheit geführt haben.«
Ich starrte sie an.
»So wurde Lizzy Sobek danach dann auch immer genannt – ›Der Schmetterling‹.«
Vielleicht schüttelte ich fassungslos den Kopf, aber sicher bin ich mir nicht. Vielleicht blieb ich auch einfach nur reglos sitzen. Ich wusste, dass Ema und ich den gleichen Gedanken hatten: der Schmetterling auf den T-Shirts der jungen Leute auf dem alten Foto, der auf dem Schild am Grab meines Vaters und der, der auf dem Grabstein im Garten der Hexe eingemeißelt war. Das konnte kein Zufall sein.
»Lizzy Sobek«, sagte ich, und plötzlich kam mir ein weiterer Gedanke, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Lizzy könnte die Abkürzung für Elizabeth sein.«
»Es ist die Abkürzung«, sagte Ema.
Elizabeth Sobek. E.S. Die Initialen auf dem Grabstein. Noch ein Zufall? Ich stellte die Frage, die auf der Hand lag: »Was ist aus Lizzy Sobek geworden?«
»Das ist das große Rätsel«, sagte Ema. »Niemand weiß es so genau. Die meisten Historiker glauben, dass sie während eines Einsatzes zur Befreiung von halb verhungerten Kindern in der Nähe von Lodz gefangen genommen wurde. Sie und andere Untergrundkämpfer sollen erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden sein, wahrscheinlich im Jahr 1944. Aber es wurden nie eindeutige Beweise gefunden.«
»Eine Kindern geopferte Kindheit«, sagte ich. »Jetzt ergibt der Satz deutlich mehr Sinn.«
Ema nickte. »Aber das ist noch nicht alles.«
Ich sah sie gespannt an. Im Restaurant
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