Nur zu deinem Schutz (German Edition)
herrschte reger Betrieb. Leute kamen und gingen, genossen ihr Essen allein oder in Gesellschaft, unterhielten sich lachend oder surften mit ihren Handys im Internet – was man in einem Restaurant eben so alles machte. Aber für uns existierten sie gar nicht. Es gab nur diese eine Sitzecke – nur Ema und mich und den Geist eines mutigen Mädchens namens Lizzy Sobek, das schon lange tot war.
»Ich habe versucht herauszufinden, was es mit der Nummer auf sich haben könnte. Du weißt schon, die Nummer am Fuß des Grabsteins und auf dem Autokennzeichen. A30432«, sagte Ema. »Aber ich konnte einfach nichts dazu finden.«
Ich wagte es kaum, zu atmen. Wenn Ema wirklich nichts darüber herausgefunden hätte, dann hätte sie jetzt keine Tränen in den Augen.
»Also habe ich noch mehr über Lizzy Sobek recherchiert.« Ema griff in ihre Tasche und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. »Auf einer Website für Lehrer habe ich ein Geschichtsquiz über ihr Leben gefunden.« Sie faltete das Blatt auf und schob es mir über den Tisch zu.
Während ich las, ließ sie mich nicht aus den Augen.
Frage 8: Wie lautete die Nummer, die Lizzy Sobek im Vernichtungslager auf den Arm tätowiert wurde?
Die Nummer ist nach wie vor unbekannt. Die meisten Menschen glauben fälschlicherweise, dass die Insassen aller Konzentrationslager, die während des Holocaust existierten, eine Identifikationsnummer eintätowiert bekamen, tatsächlich aber war das Stammlager Auschwitz 1 (einschließlich der dazugehörigen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Monowitz) das einzige Konzentrationslager, in dem diese Tätowierungen systematisch durchgeführt wurden. Am 12. September 1942 wurden Lizzy, ihr Vater Samuel, ihre Mutter Esther und ihr Bruder Emmanuel gemeinsam mit über 1121 anderen Juden nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Schon kurz nach ihrer Ankunft am 13. September 1942 wurden die Frauen von den Männern getrennt und bekamen die sogenannten Häftlingsnummern zwischen A-30380 und A-30615 eintätowiert. Da über diesen expliziten Fall keine Unterlagen mehr vorhanden sind, ist bis heute nicht geklärt, welche Nummer Lizzy Sobek auf ihrem Unterarm getragen hatte.
Ich sah Ema an. Jetzt hatte ich ebenfalls Tränen in den Augen. »Haben wir dieses Geheimnis gelöst?«
»Könnte sein.«
»Aber das wirft eine andere Frage auf.«
Ema nickte. »Genau. Woher kannte die Hexe die exakte Nummer?«
»Und warum sollte sie einen Grabstein für Lizzy Sobek in ihren Garten stellen?«
»Es sei denn …«
Ema verstummte. Wir wussten beide, was sie hatte sagen wollen, aber ich glaube, keiner von uns beiden wagte es, diesen Gedanken laut auszusprechen. Möglicherweise waren wir etwas auf die Spur gekommen, das noch viel weitreichender war als eine eintätowierte Nummer. Möglicherweise waren wir nach all den Jahren dem Geheimnis auf die Spur gekommen, was wirklich mit Lizzy Sobek geschehen war.
17
AM NÄCHSTEN MORGEN rief ich meine Mutter in der Klinik an. Man bat mich um einen Moment Geduld und stellte mich durch.
Ein paar Sekunden später meldete sich eine vertraute Stimme. »Mickey?«
Es war aber nicht meine Mutter, sondern Christine Shippee. »Ich würde gern mit meiner Mutter sprechen«, sagte ich, ohne mich mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten.
»Und ich würde gern mit Brad Pitt duschen«, entgegnete sie trocken. »Tut mir leid, Mickey, aber die angekündigte Kontaktsperre gilt immer noch.«
»Sie können sie doch nicht einfach so vor mir abschirmen.«
»Doch, Mickey, das kann ich und das muss ich auch. Und wir beide sollten uns ebenfalls mal unterhalten. Weißt du, was Co-Abhängigkeit bedeutet?«
Schon wieder diese Frage. »Ich habe ihr die Drogen nicht besorgt.«
»Nein, aber du bist ihr Sohn und du liebst sie über alles. Du musst anfangen, strenger mit ihr zu sein.«
»Sie haben keine Ahnung, was sie durchgemacht hat.«
»Ach, Mickey«, sagte Christine, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken. »Ich habe sehr wohl eine Ahnung. Ihr Mann ist gestorben. Ihr einziger Sohn wird erwachsen. Sie hat Angst, sie ist einsam und depressiv. Glaubst du vielleicht, deine Mutter ist die Einzige hier mit einer rührseligen Geschichte?«
»Ihr Mitgefühl«, sagte ich, »ist überwältigend. Kein Wunder, dass Ihre Patienten Sie so sehr lieben.«
»Ich war eine von ihnen, Mickey. Eine Süchtige, die andere manipuliert hat. Ich weiß, wie es läuft. Also, komm nächste Woche vorbei und wir reden. Und in der Zwischenzeit sieh zu, dass du die Schule
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