Nuramon
Die Geister dort sollen ruhelose Seelen einstmals lebender Wesen sein, und es heißt, ihr Hass wäre unermesslich. Und das konnte ich den Eltern des Kriegers nicht erzählen. Es tut so weh, den Familien vom Tod ihrer Kinder, Geschwister oder Geliebten zu berichten. Vielleicht sollte ich mich allmählich aus den Schlachten zurückziehen und mich nur noch um die magischen Quellen kümmern – sie hegen und pflegen; die gefährlichen zähmen, die heilvollen stärken.«
Jasgur nickte. »Die magischen Quellen haben alles verändert. Die Heilquelle bei Urijas ist wahrscheinlich wichtiger als eine ganze Stadt voller Krieger.«
Nuramon lachte. »Du meinst wohl eher, als eine ganze Stadt voller Heiler.« Er wollte etwas nachsetzen, hielt aber inne und lauschte. Dann ließ er seine Zaubersinne zum Albenstern und durch ihn hindurch in die Welt hinauseilen. Er hörte Gepolter auf dem Gang – Waffenschläge und Schmerzensschreie. »Bjoremul kommt«, sagte Nuramon und ließ seine Magie in den Albenstern fließen. Er öffnete das Lichttor und schritt hindurch in die leere Totenkammer. Kaum hatte er seine Waffen gezogen, erschien Jasgur hinter ihm.
Nuramon öffnete die Tür, trat hinaus und wandte sich nach rechts. Am Ende des Ganges führte Bjoremul seinen Kriegsflegel gegen vier Wachen. Auf halbem Weg zu ihm schob sich eine dunkelhäutige Frau wimmernd die Wand entlang. Das Kind, das sie in ihren Armen trug, gab keinen Laut von sich.
»Hierher!«, rief Jasgur, und die Frau riss den Kopf herum und starrte sie an.
»Geh, Dyra!«, brüllte Bjoremul, ohne sich von den Wachen abzuwenden.
Dyra weinte, doch was unter ihr zu Boden tropfte waren keine Tränen, sondern Blut – das Blut ihres Kindes. Das Gesicht des Mädchens wirkte wie eine rote Maske.
Vor einer solchen Nacht hatte Daoramu sich all die Jahre gefürchtet. Ihre Tochter war entführt worden, und nun konnte sie kaum einen ruhigen Gedanken fassen. Gern hätte sie sich mit ihrer Angst nach oben zurückgezogen, doch sie blieb gemeinsam mit Gaerigar im Saal bei ihrem Vater und den Vertrauten des Hofes und lauschte jedem Wort, als könnte es die Erlösung bringen.
»Diese Narren wissen nicht, mit wem sie sich einlassen!«, rief ihr Sohn. Er wandte sich von Daoramu zu Borugar. »Niemand kommt ungestraft in unsere Stadt und entführt meine Schwester.«
Gaerigars verzweifelter Versuch, seine Gefühle hinter einer Maske aus Zorn zu verbergen, trieben Daoramu die Tränen in die Augen. Sie bemühte sich, die Haltung zu bewahren. Das war wichtig. Der ganze Hof war zur Stelle, und alle Augen waren auf sie und ihre Familie gerichtet. Und wenn sie ihre Verzweiflung nicht verbarg, mochten andere ebenfalls verzweifeln. »Beruhige dich«, sagte sie zu Gaerigar. »Wir werden sie finden.« Sie lächelte ihrem Sohn aufmunternd zu, doch in ihrem Inneren war kein Trost.
Sie wussten nicht viel. Der Leibwächter Ralogyrn hatte ihnen beschrieben, was geschehen war, und die beiden Stadtgardisten erinner ten sich nur noch daran, dass sie mit einem Mal Schatten umgeben hatten. Nun waren die Stadtgarde und auch Nylma mit ihren Leuten auf der ganzen Insel unterwegs und suchten nach Spuren.
»Sie werden uns wissen lassen, dass sie Nerimee haben«, erklärte Borugar und schaute auf den leeren Platz seiner Frau. Jaswyra hatte es nicht mehr ausgehalten und kümmerte sich um Yendred. »Wir können nur abwarten und hoffen, dass sie bald ihre Forderungen stellen«, sagte der Fürst.
»Abwarten ist nicht genug«, erwiderte Gaerigar und zog die Blicke auf sich. »Wir müssen sie aufspüren, ehe sie ihr Spiel spielen können.«
»Aber das tun sie doch bereits«, sagte Daoramu.
Gaerigar blickte ihr zornig entgegen. »Deswegen müssen wir trotz dem nicht warten, bis sie sich bewegen.«
»Das stimmt«, sagte sie mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte. »Aber wir müssen behutsam vorgehen, sonst geschieht Nerimee noch ein Leid.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Gaerigar, und ein Hauch von Unsicherheit schlich sich in seine Miene.
»Was weißt du von solchen Dingen?«, fragte Daoramu, und da senkte Gaerigar den Blick und verstummte. »Dann spiel nicht mit dem Leben deiner Schwester.«
Er hob den Kopf und starrte sie an. »Du weißt, das würde ich nie tun«, sagte er.
Sie strich ihm über den Arm. »Nicht wissentlich. Wir alle sind bestürzt, aber wir müssen die Ruhe bewahren.«
»Ruhe bewahren?«, rief Gaerigar. »Meine Schwester wurde entführt. Deine Tochter! Wie soll ich da die Ruhe
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