Nuramon
Stadt aufgewachsen war und sich nach den einfachen Tagen sehnte, da er ohne Aufsehen durch die Straßen hatte schreiten können. Nie würde sie die Nacht vergessen, da er sie und ihre Mutter in Verkleidung hier herabgeführt hatte und sie sich einen halben Abend lang unerkannt unter den Leuten hatten bewegen können. Dann aber hatte man sie entlarvt, und die Leichtigkeit, die Nerimee in jenen Stunden der Maskerade gespürt hatte, war verflogen. Damals hatte ihnen keine Gefahr gedroht, und doch hatte sie auch zu dieser Zeit deutlich gespürt, wie viel es sie alle kostete, die Fürstenfamilie zu s ein. Oft hatte sie davon geträumt, einfach loszuziehen und sich an irgendeinem schönen Ort entlang des Weges niederzulassen. Doch seit sie sich in Waragir verliebt hatte, war diese Sehnsucht geschwunden.
Als sie am Fuße der Fürstenstraße angekommen waren, hielt Ralogyrn inne und sah sich suchend um. »Wo sind die Gardisten?«, fragte er. Der vom Licht einer Öllampe erhellte Wachposten an der Felswand war verwaist.
Nerimee sah sich um und bemerkte eine Bewegung im Schatten. Noch ehe sie etwas sagen konnte, traten vier Gestalten in schwarzen Mänteln und schwarzen Hauben auf sie zu. Graue Tücher verdeckten die untere Hälfte ihrer Gesichter. Helgura und Ralogyrn zogen ihre Kurzschwerter und nahmen Nerimee zwischen sich.
Die vermummten Gestalten verstellten ihnen den Weg in die Oberstadt. »Gebt sie raus«, sprach eine Männerstimme.
Nerimee rief um Hilfe, doch die vier Gestalten stürmten bereits mit Knüppeln und Dolchen bewaffnet auf sie zu. Sie fühlte sich so hilflos wie in jenen Träumen, in denen sie sich nicht von der Stelle rühren konnte und die Gefahr unaufhaltsam näher kam.
Ralogyrn schlug einem der Männer das Schwert gegen den Leib, doch es kratzte nur an der Metallrüstung unter dem Mantel entlang. Einer der Vermummten versetzte dem Leibwächter einen Stich mit dem Dolch und trieb ihn zurück, ein anderer schlug Helgura einen Knüppel über den Hinterkopf und sandte sie zu Boden. Ralogyrn packte Nerimees Hand, doch dann lockerte sich sein Griff, er geriet ins Taumeln und ging auf die Knie. Binnen eines Augenblicks waren die verhüllten Gestalten bei Nerimee, und zwei der Angreifer setzten Ralogyrn und Helgura ihre Messer an die Kehlen. Letztere war bereits bewusstlos, und der Vermummte zog ihren Kopf an den Haaren in die Höhe.
»Mach uns keine Schwierigkeiten, und wir lassen sie am Leben«, sagte der Wortführer. Seine Stimme klang trotz des raschen Vorgehens der Vermummten für einen Moment unsicher. Nerimee nickte und ließ sich von dem Anführer in eine schmale Gasse führen. Die anderen zerrten die beiden Leibwächter hinter sich her. In der Biegung der Gasse lagen zwei ruhig atmende Stadtgardisten. Auch Ralogyrn sank nun in den Schlaf. Daoramu vermutete, dass der Dolch, der ihn getroffen hatte, vergiftet gewesen war.
»Auf die Knie!«, sagte der Anführer, und Nerimee folgte dem Befehl. Sie ließ sich die Hände auf den Rücken fesseln, und als sie ihr einen Knebel über den Mund zogen, kamen ihr die Tränen. In ihrem ganzen Leben hatte ihr noch niemand Gewalt angetan, und nun fürchtete sie, dem, was ihr bevorstand, nicht gewachsen zu sein. Schließlich verbanden die Männer ihr auch noch die Augen.
»Einen der beiden nehmen wir auch mit«, hörte sie den Anführer sagen. »Das könnte uns noch nützen.«
Ihr wurde erneut schwindelig, sie atmete schwer durch die Nase und wünschte sich, so mächtig zu sein wie ihr Vater. Auch sie vermochte viel, doch ihr Zauber war nicht der des Augenblicks. Sie brauchte Zeit und Ruhe. Sie vermochte sich selbst und andere zu heilen. Doch manche Zauber konnte sie nur auf andere wirken. Der Betäubungszauber, der Schmerzen verblassen ließ, wirkte nicht, wenn sie diesen auf sich selbst richtete. Falls diese Männer sie peinigten, würde sie den Schmerz ohne Magie ertragen müssen.
Nuramon und Jasgur saßen auf der Kreuzung der Albenpfade. Fünf Wege trafen hier aufeinander. Das Tor in die Welt war geschlossen, doch vermochte Nuramon mit seinen magischen Sinnen hinüberzuschauen. Dort befand sich der Albenstern im Ahnentempel von Varlbyra, der Hauptstadt von Varmul. Das Gebäude lag mitten im Königsbezirk. Jasgur träumte bereits davon, mit einer Streitmacht in die Hallen der Ahnen der Cardugar vorzudringen, um dem Feind mit einem raschen Angriff das Haupt abzuschlagen. Doch Nuramon schwieg zu solchen Plänen. Ihm war nicht danach, mit einer Kriegsschar
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