Nuramon
sie. »Und bindest du sie auch wieder los, um zu sehen, ob sie auch ohne Fesseln bei dir bleibt?«
Sie wartete auf das erneute Zischen der Ruten, doch der Anführer hob die Hand, und der Schmerz blieb aus. Erstaunt schaute Nerimee zu ihm auf. »Hast du keine Angst, dass sie dir das antun, was sie deiner Leibwächterin angetan haben?«, fragte er.
»Angst?« Sie lachte. »Die habt ihr mir gerade ausgetrieben.«
Der Anführer grinste und schritt in seinem wallenden Mantel um den Tisch herum. »Deine Leibwächterin ist sehr begabt. Und du scheinst mir auch über geeignete Fähigkeiten zu verfügen.«
Nerimee folgte ihm mit dem Blick, soweit sie es vermochte. Als er hinter ihr stand, hatte sie Angst, doch sie bemühte sich, ihre Gefühle zu verbergen. Diese Männer hatten ihre Schreie gehört. Ihr Wimmern würde sie ihnen nicht zum Geschenk machen.
Der Mann trat neben sie, sodass sie zu ihm aufschauen konnte. »Du bist deiner Mutter ähnlich«, sagte er. »Größere Augen, nicht so weich. Ein Elfengesicht.«
»Wer bist du?«, fragte sie.
Der Mann lachte. »Mein Name ist Merryn Lysgoru«, sagte er und musterte sie aufmerksam, als erwarte er eine Reaktion. Tatsächlich kannte Nerimee den Namen Lysgoru. Er gehörte der Familie des früheren Fürsten. Als ihr Vater um die Hand ihrer Mutter angehalten hatte, hatte Fürst Yarro befürchtet, ihr Großvater könnte mit Nuramon an seiner Seite nach dem Fürstenthron greifen. Und so hatte er die Verbindung untersagt und angeboten, dass ihre Mutter seinen Neffen Merryn heiratete. Doch so weit war es nie gekommen.
»Ich kenne dich aus den Erzählungen meiner Mutter«, sagte Nerimee schließlich. »Sie hat dir viele Namen gegeben.«
»Tatsächlich?«, sagte Merryn mit funkelnden Augen.
»Einige davon haben deine Handlanger eben im Munde geführt.«
Merryn lachte. »Du hast genauso eine spitze Zunge wie deine Mutter.« Er gab seinen Leuten einen Wink. »Bindet sie los.«
Die Männer taten wie ihnen geheißen, und als sie Merryn schließlich mit vor Schmerzen brennendem Rücken gegenüberstand, stellte sie fest, dass sie nahezu gleich groß waren und sich dadurch zumindest körperlich auf Augenhöhe begegneten.
»Kannst du dir vorstellen, was ich in der Fremde durchmachen musste?«, fragte er und schaute an ihr hinab.
»Ich kann mir vorstellen, was die Frauen in der Fremde durchmachen mussten«, erwiderte sie.
Wieder lachte er, griff nach ihrem Hemd und starrte sie herausfordernd an.
»Nicht«, sagte sie. »Das ist unter der Würde eines Fürstensohnes.«
In Merryns Gesicht stand für einen Augenblick Verwunderung. Er ließ von ihrem Hemd ab, schaute kurz zur Seite und schlug ihr dann mit der Faust in den Magen. Nerimee knickte ein, fiel zu Boden und rang nach Luft. Als sie aufsah, hielt Merryn einen Stock in der Hand und schlug ihr ins Gesicht. »Was weißt du schon von der Würde eines Fürsten!«, kreischte er. »Du bist die Frucht der Verbindung, die meiner Familie den Untergang brachte. Ich werde Borugar alles nehmen: dich, deine Brüder, deinen Vater, deine Mutter, deine Großmutter. Und ganz am Ende hole ich ihn.«
»Das bringt dich auch nicht auf den Thron«, sagte Nerimee leise.
»Ich will den Thron nicht. Ich will Rache für all das, was ich verloren habe. Ich hätte Herzog unter meinem Onkel sein können. Vielleicht wäre ich selbst auf den Thron gekommen. Wer weiß?«
»Dein Onkel hielt alles in den Händen. Er hätte Nuramon haben können. Er hätte die Siege, die mein Großvater nun davonträgt, selbst erringen können. Aber er hat es durch sein Misstrauen ver spielt.«
Merryn schlug mit dem Stock zu. Wieder und wieder. Nerimee machte sich klein und vergrub ihren Kopf unter ihren Armen. »Er war nicht verrückt! Er war nicht verrückt!«, brüllte Merryn. »Sag es! Sag, dass er nicht verrückt war!« Er senkte den Stock und hielt inne.
»Er war nicht verrückt«, sagte sie und atmete gegen den Schmerz an. »Und auch mein Großvater hielt ihn nicht dafür. Er hätte alles für deinen Onkel getan.«
Einmal mehr hob Merryn den Stock, doch dieses Mal nahm Nerimee all ihren Mut zusammen und starrte ihm ins Gesicht. Sie dachte an Waragir. »Du musst deinen Feinden ins Antlitz schauen«, hatte er ihr einmal gesagt, und nun spendeten seine Worte ihr Kraft. Sollte dieser armselige Neffe eines gescheiterten Fürsten sie doch weiterprügeln. Sie würde sich nicht abwenden.
Merryn zögerte und blickte ihr ins Gesicht. Schließlich warf er den Stock beiseite
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