Nuramon
Lippen.
»Hörst du, Merryn? Du darfst noch eine Weile leben«, sprach Nerimee einem der Männer entgegen, und in ihrer Stimme lag so viel Hass, dass selbst Gaerigar zurückwich. Das war nicht die Schwester, die er all die Jahre gekannt hatte. »Haben sie dir so sehr wehgetan?«, sagte er leise.
Nerimee kamen die Tränen. »Ich wollte diese Macht nie kennen. Und jetzt habe ich Blut an meinen Händen. Dafür hasse ich sie noch mehr als für die Schmerzen und die Demütigungen.« Sie schluchzte.
Als Gaerigar sie in die Arme schloss, fühlte er die Wunden an ihrem Rücken. Sie ließ sich von ihm halten und über den Kopf streicheln. Er hatte sie noch nie trösten müssen. In diesem Moment fühlte er sich wie ihr großer Bruder und Beschützer.
Doch je länger er sie hielt, und je ruhiger er dabei wurde, desto deutlicher kehrte das zurückliegende Geschehen in seine Sinne zurück. Er sah all das Blut und die schmerzverzerrten Gesichter der Sterbenden; er hörte die Schreie, die mit dem Augenblick des Todes vergingen. Und in seiner Nase hing der Geruch von verbranntem Fleisch und geronnenem Blut.
Er hatte Menschen getötet – und er hatte es sich anders vorgestellt. Er hatte geglaubt, der Kampf würde ihn stärker machen, zu einem Helden wie seinen Großvater, Nylma oder Jasgur. Doch in diesem Augenblick verstand er, dass der Kampf selbst überhaupt nichts bedeutete. Nichts an ihm war heldenhaft und bewundernswert. Der Kampf war nur das Mittel gewesen, um zu seiner Schwester zu gelangen. Und hier zu sein, sie zu trösten, das war es wert gewesen.
Sommertage
Als Nuramon das Ufer des Furjes erreichte und von der Entführung Nerimees und ihrer Rettung durch Gaerigar hörte, war er außer sich. Als er aber zu seinen Vertrauten zurückkehrte, sah er Dyra, Bjoremul und die kleine Lyasani an der Reling der Fähre stehen. Und es beruhigte ihn, wie sie der friedlich daliegenden Insel entgegenblick ten. »Jasbor ist wunderschön«, sagte das Mädchen, und Dyra erklärte lächelnd: »Das ist unser neues Zuhause.« Da schluckte Nuramon sein Entsetzen hinunter und flüsterte Loramu zu: »Führ sie durch die Stadt, und bring sie dann in den Palast.«
Am Steg der Stadtgarde angekommen, machte sich Nuramon mit Waragir und vier Kriegern als Leibwache auf den Weg in den Palast. Der Erste, der ihm dort begegnete, war Terbarn, der Palastvogt. »Wo ist Nerimee?«, fragte Nuramon.
»Auf ihrem Zimmer«, antwortete Terbarn. »Und der Fürst erwartet dich im Saal.«
Nuramon wandte sich an Waragir. »Geh hinauf zu ihr«, sagte er. »Sie braucht dich jetzt.« Kurz sah er Waragir nach, wie er die Treppe emporeilte, dann folgte er Terbarn in den Thronsaal.
Borugar hielt gerade Kriegsrat mit den Feldherren, die in Jasbor zurückgeblieben waren. Nuramon nickte den Anwesenden zu, und sein Blick blieb an Goswyrn hängen. Auch an dem Feldherrn der Seekrieger, mit dem er so viele Abenteuer erlebt hatte, waren die Jahre nicht spurlos vorbeigegangen. Er war nun Mitte fünfzig, aber anders als Borugar und Jasgur zog es ihn nach wie vor in den Kampf. »Du bist zurück«, sagte Goswyrn und schloss ihn freundschaftlich in die Arme. »Das ist sehr gut, Nuramon. Wir haben dich vermisst.«
»Wie geht es Nerimee?«, fragte Nuramon Borugar und warf Nylma und Yargir, die am Fürstenthron standen, einen Blick zu.
»Sie hat es überstanden«, sagte Borugar. »Aber diese Kerle haben ihr übel mitgespielt.« Der Fürst berichtete, was Nerimee durchgemacht hatte und dass Merryn Lysgoru, der Neffe des ehemaligen Fürsten, hinter der Entführung Nerimees steckte und sie im Haus der Abgesandten der Grafschaft Wurelgar gefangen gehalten hatte. Die Abgesandten hatten zugegeben, dass Graf Flarigor sich mit dem Fürsten von Nyrawur eingelassen hatte, der vor Jahren schon mit dem Verrat Herzog Doaros einen Streit entfesselt hatte. »Wir haben neue Feinde, Nuramon«, sagte Borugar. »Damals bei Doaro war ich nachsichtig, als er Jasgur in Urijas einfach stehenließ und sich in sein Herzogtum absetzte.« Nuramon erinnerte sich. Damals hatte Jasgur Doaro nach der Befreiung von Urijas davongetrieben, und der Herzog hatte schließlich im Süden im Fürstentum Nyrawur Zuflucht gefunden. »Aber jetzt zwingen uns die Nyrawuri einfach, gegen sie vorzugehen«, sagte Borugar.
Nuramon war letzten Sommer in Wurelgar gewesen, um Krieger über die Albenpfade zu führen. Graf Flarigor herrschte im äußersten Süden Yannadyrs, direkt an der nyrawurischen Grenze. Die
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