Nuramon
überrascht, dass die Rückkehr an diesen Ort sie nicht überwältigte. Ebenso wenig wie sie bei den Hinrichtungen ihrer Peiniger ein Gefühl der Genugtuung gespürt hatte, so wenig rührte dieser Ort ihr Innerstes.
Der Gardist führte sie durch das Gewölbe auf den Gang, öffnete ihr die Zellentür und machte ihr und ihren Leibwächtern Platz.
Nerimee trat in Helerurs Zelle ein und war überrascht über die Ausstattung seines Gefängnisses: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und eine Truhe – dazu Bücher und Schreibzeug. Als sie damals hier gewesen war, hatte sie außer einer Kerze nichts gehabt. Aber es störte sie nicht. Sie vermutete sogar, dass alles, was Helerur an ein normales Leben in Freiheit erinnerte, ihm früher oder später zur Qual werden musste.
Als der ehemalige Herzog sie erblickte, erhob er sich von seinem Platz am Schreibtisch und musterte sie überrascht. »Du bist die Erste, die mich besucht«, sagte er mit müder Stimme. »Ausgerechnet du.«
Nerimee schaute zwischen ihren Leibwächtern hin und her. »Lasst mich mit ihm allein«, sagte sie kalt. Die drei Krieger tauschten Blicke, dann gingen sie auf den Gang hinaus. Sie ließen die Tür geöffnet, und ihre Schritte entfernten sich nur zögerlich.
»Das ist mutig von dir«, sagte der ehemalige Herzog.
Nerimee schaute zu Helerurs Filzschuhen hinab. »Dort, wo du jetzt stehst, da stand ich, als sie kamen, um mir das Messer an die Kehle zu legen. Damals entdeckte ich durch die Wut eine Spielart der Magie, die mir zuvor fremd gewesen war. Seither weiß ich mich zu wehren.«
Helerurs Mundwinkel zuckten. »Und doch könnte ich auf dich losgehen und dich mit in den Tod ziehen, der mich hier ohnehin irgendwann erwartet. So hätte ich zumindest im Tode die Gewissheit, deinem Vater und deinem Großvater einen letzten Stoß versetzt zu haben.« Er machte einen Schritt auf sie zu, doch sie hob die Hand, und ihre Finger standen in Flammen. Da wich er zurück und ließ sich auf den Rand seines Bettes sinken »Die Fähigkeiten des Vaters im Gewand der Mutter«, sagte er.
Nerimee schloss die Hand, und das magische Feuer verging. Sie schaute sich noch einmal um, dann schmunzelte sie. »Viele am Hof glauben, dass du hier im Fürstengewand, gepflegt und von Dienern umgeben ein angenehmes Dasein verbringst. Wenn sie das nur sehen könnten!«
Er verzog das Gesicht, »Den Spott werde ich wohl ertragen müssen«, sagte er. »Schließlich habe ich das Spiel verloren.«
»Das ist kein Spiel, Helerur.«
»O doch«, sagte er. »Ein tödliches sogar. Bei dem ich alles in die Waagschale warf.«
»Hast du nie an deine Familie gedacht?«, fragte Nerimee.
Er schaute zu Boden, und lange Zeit dachte Nerimee, er würde ihr nicht antworten. Dann aber sagte er leise: »Lebt sie denn noch?«
Dass er nicht um das Wohlergehen seiner Frau wusste, schien ihn zu quälen. Und das war eine Strafe, die sie ihm gönnte. Aber zu wissen, dass seine Familie da draußen lebte, mochte die Sehnsucht in ihm wecken. Und diese würde noch schlimmer an ihm nagen als die Ungewissheit. »Sie sind in Nyrawur«, sagte sie schließlich und wartete auf seine Reaktion.
Er atmete auf. Also hatte er doch ein Herz. »Danke«, flüsterte er. Das beinahe kindliche Lächeln, das über sein Gesicht huschte, wollte nicht zu dem Machtmenschen passen, als den Nerimee ihn kannte.
Ihr Blick wanderte zu einem Stapel Papier, der auf dem Tisch lag. Sie nahm das oberste Blatt und las laut, was dort geschrieben stand: » Neunundvierzig Zeichen des Verfalls von Herrschaft.« Es war der Titel eines Buches. »Ist das eine Abrechnung mit uns?«, fragte sie.
Er lachte. »Nein. Das ist mein großes Werk zur Staatskunst.« Dann wurde er ernst. »Es ist ein Vermächtnis an deine Mutter. Wenn sie erwacht und mein Todesurteil ausspricht, möchte ich ihr zumindest eine Entschuldigung überreichen.« Nerimee war überrascht, dass Helerur glaubte, dass ihre Mutter zu retten war. »Auch wenn sie mich hasst«, sagte er, »wird sie diese Schrift zu schätzen wissen. Sie handelt von meinem Verfall – dem Verfall meiner Macht, von meinen Schwächen und den Schwächen meiner Grafen und Feldherren.«
Sie las eine Seite und schaute immer wieder überrascht zu ihm hinüber. »Du meinst es also ernst mit deiner Entschuldigung«, sagte sie zögerlich.
Er lächelte bitter. »Ich werde nicht als Helerur der große Herzog in Erinnerung bleiben. Als Mensch werde ich nur der Verräter sein. Aber meine Schriften könnten die
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