Nuramon
auf die steinerne Gestalt, die sich den Sargdeckel entlangzog. »Ohne das würde ich nicht glauben, dass Gaerigar darin ruht«, sagte sie und strich der Steingestalt über die Wangen.
Nuramon fasste ihre Hand, und sie begann zu schluchzen. »Ich dachte, die Zeit in der Finsternis hätte mir die Trauer genommen«, sagte sie. »Aber die Wahrheit ist, dass in der Dunkelheit nichts greifbar ist. Hätte ich sein Grab nie gesehen, wäre er irgendwo gefallen und bestattet, könnte ich es verdrängen. Aber ihn hierzuhaben macht es wahr.«
»Aber es ist nur sein Körper«, sagte Nuramon und strich ihr über die Schultern.
»Manche glauben, dass mit dem Tod alles endet und die Ahnen in der Erinnerung und im Beispiel leben, nicht aber in irgendeinem Jenseits.«
»Glaubst du das denn?«, fragte Nuramon leise.
»Nein. Seine Seele ist gewiss im Jenseits. Welches es auch immer sein mag. Vielleicht ist er bei den Ahnen und spricht mit uns in unseren Träumen. Vielleicht ist er auch im Mondlicht. Wer weiß schon, ob er den Weg der Elfen oder der Menschen geht?«
Nerimee saß auf dem Dach des Palastes und schaute über die Stadt nach Yannalur hinüber, wo die hellblaue Fahne des alvarudorischen Handelshauses der Familie Werlaru wehte. Dort war Bargorls Reich. Und wie so oft an diesem Tag fragte sie sich, ob sie die Worte, die sie und Bargorl letzte Nacht getauscht hatten, wirklich gesprochen hatten oder ob ihr Wunsch zur Erinnerung geworden war. Sie hatten sich die Liebe gestanden.
Nerimee lächelte. Wenn ihre Eltern fort waren, würden sie und Bargorl viel Zeit füreinander haben. Natürlich würde sie ihrem Großvater beistehen müssen, aber nach den Strapazen der letzten Jahre war diese Aufgabe eine Erleichterung. Während Yendred und seine beiden Geliebten nach Osten ziehen und an der Spitze der Ilvaru Krieg führen würden, würde sie hierbleiben und nur gelegentlich zu den Quellen reisen. Das ließ viel Raum für die Entfaltung ihrer Liebe.
Als Schritte die Treppe heraufhallten, musste Nerimee sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da zu ihr kam. Der Gang war zu gemächlich, als dass es Terbarn oder einer der Dienstboten sein konnte, nicht fest genug für ihren Bruder, nicht gleichmäßig genug für ihren Vater, sondern vorsichtig und leise, unterbrochen vom Aufsetzen eines Stocks.
»Hast du dich hier oben versteckt, weil du wusstest, dass es mich Mühe kosten würde, zu dir zu kommen?«, fragte Daoramu und atmete durch.
Nerimee ging Daoramu entgegen und führte sie zu einer Sitzgruppe auf dem Dachgarten des Palastes. Mit einem Lächeln schob sie ihrer Mutter einen der Becher, die die Dienstboten gebracht hatten, hin und schüttete ihr aus dem Krug Wasser ein. Ihre Mutter trank nur einen Schluck und fragte dann: »Hast du mich erwartet?«
»Ich bin nun oft hier oben. Die Dienstboten bringen mir Wasser – manchmal Wein. Gelegentlich kommt Terbarn hinzu, um etwas mit mir zu besprechen.«
»Hat er seine Arbeit gut gemacht?«, fragte ihre Mutter.
»Großmutter und Terbarn haben viel von uns ferngehalten«, antwortete sie und musste lächeln. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie dieser Palast ohne die beiden zurechtkam.« Sie schaute auf die Stadt hinab. »Es ist, als wären wir schon immer hier gewesen.«
»Das liegt daran, dass du hier geboren und aufgewachsen bist«, sagte ihre Mutter.
Nerimee schüttelte den Kopf. »Es liegt auch an Großvater. Wie er von früher erzählt und dann von seinem Aufstieg zum Fürsten, könnte man meinen, all die Jahre in Merelbyr wären ein Exil gewesen.«
»Ich fühlte mich dort einmal zu Hause«, sagte Daoramu. »Vielleicht ist das einer der Gründe, dass ich auf den Thron verzichte. Mich verknüpft nicht so viel mit dieser Stadt wie euch.«
»Warum euch und nicht Yendred? «, fragte Nerimee.
»Yendred wäre vom Gemüt her wie Nuramon und zugleich ein Getriebener wie dein Großvater und Gaerigar. Er würde nie ruhig hier in Jasbor sitzen können, während im Osten gekämpft wird.«
»Du könntest die Krone erben«, sagte Nerimee. »Du bist wie für den Thron geschaffen. Und mit dem Jugendstein könntest du ewig herrschen.«
»Und genau das wäre falsch«, sagte Daoramu und griff nach ihrer Hand. »Glaubst du an das Mondlicht?«, fragte sie dann. »Glaubst du, dass dein Vater sich eines Tages auflöst und ins Jenseits entschwebt? Und glaubst du, dass die Elfenkönigin ihn hier zurückließ, um die Magie in ihre alten Bahnen zu lenken?«
Als Nerimee nickte, fuhr sie fort:
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