Nuramon
Pfade abgeschnitten waren, nahmen Farodin und ich Abschied von Albenmark. Emerelle hatte die Albenkinder zwar mit gewaltigem Aufwand aus dieser Welt und ebenso aus der Zerbrochenen Welt nach Albenmark zurückgeholt, aber Farodin und ich entschieden uns gegen unsere Heimat, um Noroelle doch noch zu befreien.«
»Hätte die Königin euch nicht aus Dankbarkeit helfen müssen?«, fragte Daoramu mit schimmernden Augen.
Nuramon nickte. »Als der Abschied kam, gab Emerelle uns das Stundenglas, mit dessen Macht sie das Tor zu Noroelle versiegelt hatte. Sie hatte es wieder zusammengefügt. So gingen wir fort und befreiten unsere Geliebte aus ihrem Gefängnis. Und sie hatte ihr Versprechen nicht vergessen. Sie wusste mittlerweile, dass sie in einem früheren Leben Farodins Geliebte gewesen war und hatte erkannt, dass er ihre Bestimmung war. So entschied sie sich für ihn. Und noch in dieser Nacht lösten sich Noroelle und Farodin auf und ent schwanden ins Mondlicht. Seitdem habe ich keine Albenkinder mehr gesehen.«
Daoramus Lippen bebten, ihre Hände zitterten, und ihre Augen glitzerten. Sie holte Luft, um etwas zu sagen, doch schluckte dann nur und betrachtete ihn mit mitleidiger Miene. Erst nachdem sie tief durchgeatmet hatte, fragte sie: »Was ist das Mondlicht?«, doch Nuramon war sich sicher, dass sie eben etwas anderes hatte sagen wollen. Die Frage war gewiss nur der Ausweg aus einer Gemütslage, die sie zu überwältigen drohte. Sein Schicksal hatte sie aufgewühlt.
»Spricht man davon im Märchen nicht?«, fragte er und hoffte, ihr damit einen Weg geboten zu haben, der ein wenig von dem Mitleiden fortführte.
Daoramu lächelte ihn an, als wollte sie ihm danken. »Nicht in denen, die mein Großvater mir erzählte«, sagte sie leise. »Ist das Mondlicht wie das Jenseits, in das unsere Ahnen eingehen?«
Nuramon nickte. »Farodin und Noroelle umgab silbernes Licht, ein Duft von Blütenstaub lag in der Luft, und dann verschwanden sie mit allem, was sie am Körper trugen.«
»Dann ist es mehr als ein Glaube, Nuramon. Wie du es erzählst, gibt es das Mondlicht wirklich.«
»Was immer das Mondlicht ist, es wirkt hier wie in Albenmark. Es ist nicht ein Ort jenseits dieser Welt; es existiert jenseits aller Welten.«
»Aber warum gingen sie? Farodin und Noroelle meine ich. War es ihre Entscheidung?«
»Nein«, hauchte er. »Wenn es so wäre, wäre auch ich nicht mehr hier. Es heißt, dass ein Elf, der seine Bestimmung findet, ins Mondlicht geht. Wann das geschieht, entscheidet das Schicksal. Manche gehen mit ihrem Tod ins Mondlicht, für andere kommt es überraschend. Sie erlebten einen Augenblick höchster Erfüllung, und im nächsten Augenblick verschwinden sie. Und nun bin ich hier – das letzte Albenkind, ohne die Möglichkeit auf eine Wiedergeburt, weil meine Seele den Weg nach Albenmark nicht finden würde. Jetzt liegt mein Schicksal hier in dieser Welt.«
Daoramu legte den Kopf in den Nacken, und Nuramon folgte ihrem Blick zum Mond hinauf. »Habt ihr in Albenmark den gleichen Mond gehabt?«, fragte sie.
»Nein. Er ist größer, die Muster sind ganz anders, und er hat keine Mondphasen.«
»Keine Mondphasen? Das ist unmöglich.«
»Aber es ist so. Der Mond in Albenmark ist etwas anderes als euer Mond. Mondlicht ist nur ein Name.«
Sie strich ihm über die Schulter, dann lächelte sie. »Danke, dass du diese Erinnerungen mit mir geteilt hast«, sagte sie.
Er betrachtete Daoramu: ihr langes Haar, ihre geschwungenen Lippen und ihr anmutiges Gesicht, das im Licht der Lampe schimmerte. Er mochte es, wenn sie in Gedanken ins Leere starrte und ihre Wimpern dann plötzlich fächerten, sobald ihre Gedanken ins Hier und Jetzt zurückkehrten. Und er vermisste das schelmische Lächeln, das sie ihm am Tag auf dem Pass gezeigt hatte. »Seit achtzig Jahren habe ich die ganze Geschichte meiner Suche niemandem erzählt«, sagte er schließlich. »Noroelle war die Letzte, die sie vernahm.«
»Achtzig Jahre!« Ihre Augenbrauen wölbten sich vor Erstaunen in die Höhe. »Wie alt … Wie alt bist du denn?« Sie blickte ihm in die Augen, dann streckte sie die Hand nach seinem Gesicht aus und fuhr ihm sanft mit ihren langen Fingern über die Wange. Er ließ es gesche hen und genoss die warme Berührung. Dann strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und fragte sich, ob er es wagen sollte, sie zu küssen. Aber die Frage, die sie gestellt hatte, läutete in seinem Kopf und hielt ihn davon ab. »Die Antwort wird dir Angst
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