Nuramon
Fenster des Eckzimmers aus konnte sie nach Osten hinab zum Ruljas schauen, an dem anderen hatte sie den Hof und die Festung im Blick. Die Geräusche, die zu ihr heraufdrangen, störten sie nicht. Im Gegenteil: Sie hörte gern, wie das Leben dort draußen weiterlief, während sie hier oben in alte Sagen und ferne Orte eintauchte.
Seit Tagen bestand ihre Lektüre aus Märchen und Sagen. Nun, da sie Nuramon kannte, betrachtete sie die Erzählungen mit anderen Augen. Es war, als wäre sie in ihre Kindheit zurückgekehrt und in diesen wenigen Tagen mit dem Wissen um Nuramon noch einmal erwachsen geworden.
Daoramu suchte nach Geschichten über die Liebe zwischen Menschen und Elfen, doch was sie fand, befriedigte sie nicht. Es waren Männerfantasien von einem Elfenreich, in dem Elfenfrauen entweder gehorsame Liebhaberinnen oder aber männerverderbende Wesen waren, die ihren Geliebten die Kraft raubten. Nicht selten kamen die Männer der Schauergeschichten beim Liebesspiel ums Leben und ihre Gefährten fanden sie leblos wieder, mit einem Ausdruck ekstatischen Schreckens im Gesicht.
Von Frauen, die einen Elfen liebten, fand sie in den Erzählungen nichts. Die Ahnenlisten der verschiedenen Stämme bargen jedoch Hinweise. Das Haus Dornoru führte einige Namen mit dem Zusatz Ilvarsoln, was so viel hieß wie von Elfen belebt oder gar Elfengeborener . Der Stamm der Dornoru hatte einst im fernen Nordosten gelebt, war heute jedoch größtenteils in anderen Stämmen aufgegangen. Ihr Ruf war der eines Volkes, das sich auf ein edles Erbe berief, sich aber feige aus allem heraushielt, den Nachbarn nicht beistand und noch nie einen nennenswerten Sieg errungen hatte.
Daoramu durchsuchte die alten Empfangschroniken der Könige nach Gesandten des Stammes der Dornoru, und so stieß sie auf den Namen einer Stadt, den sie nie zuvor gehört hatte: Alvarudor, der Berg der Albenkinder. Sie fragte sich, ob die Antworten, nach denen sie forschte, in jener geheimnisvollen Stadt verborgen lagen.
Nuramon mochte jeden Tag zurückkehren und um sie werben, und Daoramu war klar, dass sich dadurch alles ändern würde. Er war nicht wie andere Männer. Er wollte sie nicht besitzen; nicht wie jene Adligen, die eine Frau als Gegenstand betrachteten. Und er wollte nicht heimlich ihre Stärke gewinnen, um diese in der Öffentlichkeit als die eigene darzustellen. Er erwartete nicht, dass sie sich damit begnügte, im Hintergrund zu stehen, schön auszusehen und mit anzuhören, wie der Gatte die Früchte ihres Geistes erntete, während sie zu nichts weiter gut war, als den Mund zu halten.
Nuramon umgab eine Unschuld, die Daoramu bislang fremd gewesen war. Wie er über einfache Dinge sprach, wie er offen redete, ohne sich seiner Schwächen zu schämen. Andere wären daran zugrunde gegangen, weil das Gefüge verlangte, dass man mehr schien, als man war, und seine Schwächen verbarg. Schon jetzt war es ihr so, als wäre die kurze Zeit, die sie an seiner Seite hatte verbringen dürfen, wertvoller als alles zuvor Erlebte. Sie hatte den Eindruck, als hätten sie und Nuramon all das Blendwerk abgestreift, mit dem sich andere verhüllten, und als wären sie einander nackt gegenübergetreten. Es war ein erhebendes Gefühl gewesen, und sie war begierig darauf, es länger zu erkunden.
Sie musste an Jasgur und an die Hoffnungen denken, die er sich so offensichtlich machte und die sie sogar genährt hatte. Es war, wie sie ihrer Mutter gesagt hatte: Es gab weit Schlimmeres, als Jasgur zum Gatten zu haben. Sie bewunderte ihn und hätte sich vor Kurzem noch eine gemeinsame Zukunft vorstellen können. Doch mit Nuramons Erscheinen war das Vergangenheit. Nun fragte sie sich, ob Jasgur verstehen würde, dass sie Nuramon den Vorzug gab. Oder würde aus ihrer Entscheidung bei Jasgur erst Eifersucht und dann Verachtung und Hass erwachsen? Falls er ihr vorwerfen sollte, ihm Hoffnungen gemacht zu haben, könnte sie es nicht einmal abstreiten. Aber sie war sich sicher, dass er sie niemals anklagen würde. Er war ein Ehrenmann, und er ähnelte Nuramon sogar in seiner Leidensfähigkeit und Opferbereitschaft. Aber selbst die vorbildlichsten Männer mochten sich in einem Augenblick der Schwäche zu etwas hinreißen lassen, das sie später bereuten. Und der Gedanke, dass Nuramons Leben vielleicht in diesem Moment von Jasgurs Wohlwollen abhängen könnte, weckte eine Angst in ihr, für die sie sich schämte. Denn mit dem Verdacht, der aus dieser Angst entsprang, versehen zu werden, hatte
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