Nuramon
Jasgur nicht verdient.
Pferdegeräusche, die vom Hof zu ihr heraufdrangen, rissen sie aus ihren Gedanken, doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Im Grau dieses verregneten Morgens erspähte sie nicht Nuramon, Jasgur und die Krieger, die zurückkehrten, sondern eine Gesandtschaft unter dem blauen Banner des Fürsten. Es waren gewiss drei Dutzend Leute, und wer immer sie angeführt hatte, war bereits abgestieg en und eingetreten. Daoramu vermutete, dass die Fähigkeiten ihres Vaters als Feldherr wieder einmal gefragt waren. Die Oberen kamen immer wieder auf ihn zurück, wenn es irgendwo eine schwierige Schlacht zu schlagen galt.
Daoramu wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Schriften zu und fand im Anhang der varmulischen Empfangschroniken eine Ahnenliste der Stadtältesten von Alvarudor. Die Namensliste endete mit der Erklärung, dass ein Rat aus Adelsfamilien dort die Herrschaft übernommen und den Kontakt zu den Königreichen abgebrochen hatte. Der letzte Vermerk des Chronisten besagte, dass die Zeit der Helden Alvarudors und ihrer Taten vorüber sei. Das war vor sechs Jahrhunderten gewesen.
»Herrin!«, sagte plötzlich eine Stimme direkt vor ihr. Daoramu sprang auf und sah in das erstaunte Gesicht der Dienstmagd Gaeria. »Ich habe geklopft«, erklärte diese.
»Geht es um die Boten des Fürsten?«, fragte Daoramu und setzte sich wieder.
Die Dienstmagd nickte. »Es ist Herzog Helerur. Deine Eltern sind noch im Bad, Herrin. Sie bitten dich, unseren Gast zu empfangen.«
Daoramu dankte der Dienstbotin und entließ sie. Während sie die Seitentreppe hinab und in Richtung des alten Ratssaales eilte, um der Bitte ihrer Eltern nachzukommen, überlegte sie, warum der Herzog von Byrmul lediglich unter dem blauen Banner des Fürsten reiste und nicht auch sein eigenes führte. Als sie den alten Ratssaal betrat, der an die große Halle grenzte, musste sie lächeln. Neben dem Hausvogt Ulargur und zwei Dienstboten stand er – Helerur. Der Herzog von Byrmul herrschte über die südlichen Grafschaften westlich der Lysdorynen. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, dass die anderen beiden Herzöge von West-Yannadyr sich stets seinem Willen beugten, sodass ihm das ganze Land zwischen den Bergen und dem Meer gefügig war. Da Helerurs Herrschaftsbereich in relativer Sicherheit lag, war er meist damit betraut, die Versorgung mit Nahrung und Waffen zu gewährleisten. Der Fürst hielt ihn im Hintergrund und ließ die anderen Herzöge den Krieg führen. Dennoch war es ungewöhnlich, dass nicht Herzog Rumol von Ralobyl selbst erschien, denn immerhin war er der Herr ihres Vaters.
»Daoramu!« In Helerurs ruhiger Stimme schwang Freude mit. Er schloss sie in die Arme und sagte: »Du hast dich verändert.«
»Aber du bist noch der Alte«, entgegnete sie grinsend. »Nur ein wenig grau bist du geworden.«
Er blickte an ihr herab. »Kein Wunder, dass von dir in diesen Tagen am Hof viel die Rede ist.«
»Hast du etwa ein gutes Wort für mich eingelegt?« Der Fürst war gewiss nicht erfreut darüber, dass sie in Werisar, als die Verhandlungen mit König Mirugil zu scheitern drohten, auf eigene Verantwortung einen Kompromiss ausgehandelt hatte. Sonst hätte er diesen nicht zurückgewiesen. Und die Botschaft ihrer Rückkehr, die sie in die Hauptstadt Urijas geschickt hatte, ohne darin Nuramon, die Albenpfade und die Teredyrer zu erwähnen, hatte gewiss Fragen aufgeworfen.
»Ich habe immer gesagt, dass du die beste Schülerin bist, deren Mentor ich nie war. Die meisten meiner Schüler werden am Ende doch Krieger und vergessen meine Lehren. Und die meisten Schü lerinnen vergessen sie, sobald sie ihren Gatten gute Ehefrauen werden.«
Daoramu lachte. Dann bat sie die Dienstboten, Wein zu bringen, und als auch der Hausvogt Ulargur sich entfernt hatte, um Daoramus Vater zu holen, nahm Daoramu mit dem Herzog in einer Ecke des kleinen Saales Platz. »Du reitest nur unter dem Banner des Fürsten«, sagte sie. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du als einfacher Bote zu uns kommst.«
Helerur nickte ihr anerkennend zu. »Wie immer bist du sehr aufmerksam«, sagte er. »Der Fürst schickt in mir nicht nur den Herzog, sondern auch den alten Freund der Familie. Er bittet euch um etwas, um es nicht befehlen zu müssen. Und er gewährt euch etwas, um das ihr nicht zu bitten wagt.«
Daoramus Neugierde war geweckt, doch ehe Helerur sich erklären konnte, betrat ihr Vater mit festen Schritten den Ratssaal. »Helerur!«, rief er und kam mit
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