Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
Scapa nicht, was er erwidern sollte. Hatte ihm der Moorelf wirklich das Leben gerettet?
»Du bist verwirrt«, hob Maferis wieder an, mit Worten, die sich behutsam an Scapa heran zu tasten schienen. »Aber nicht wegen des Fiebers. Du hast etwas Bedeutsames geträumt, nicht wahr? Ich wusste, dass es etwas Bedeutsames sein muss. Ihr alle –
du und deine Gefährten – ihr seid bedeutsam.«
Scapa starrte ihn finster an. Er mochte keine Schnüffler, ob sie ihn nun ins warme Haus geholt hatten oder nicht. »Ich kann mich nicht mehr an den Traum erinnern«, log er mit dem drohenden Unterton, der bis jetzt jeden zum Verstummen gebracht hatte.
Nicht aber den Moorelf. »Ich glaube, du kannst dich noch an den Namen Arane erinnern.«
Nun reichte es! Scapa fasste instinktiv nach hinten, aber er trug weder den Gürtel, in dem sein Dolch steckte, noch Hemd oder Wams. Maferis schien das verunstaltete Gesicht zu einem dünnen Lächeln zu verziehen, als erkenne er Scapas Absicht.
»Wenn du diesen Namen noch einmal in den Mund nimmst«, zischte Scapa, »werde ich dir die Zunge herausreißen.«
Das Lächeln des Moorelfs verblasste. »Was? Ich
… ich habe dich vor dem Erfrieren bewahrt. Seit zwei Tagen pflege ich dich schon!«
Scapa sah ihn verächtlich an. »Du hast keine Ahnung, wer ich bin. Ich bin der Anführer der gefährlichsten Diebe Kesselstadts – mir gehört die Unterwelt. Man hat mir schon weitaus größere Dienste als zwei Tage Pflege erwiesen, ohne dass ich mich be-danken musste.«
»Und bestimmt hat man dich schon genauso gehasst wie verehrt«, erwiderte Maferis unbeeindruckt.
Ganz leicht lehnte er sich nun zu ihm vor. »Nur dass der Hass sich in deinen Alpträumen und deiner Seele eingenistet hat.«
»Du kennst mich nicht, Moorelf! Niemand kennt mich.«
»Oh doch, ich kenne dich.« Maferis erhob sich gemächlich und wandte sich einer Tür zu, die aus dem Zimmer führte. »Ich kenne Menschen wie dich.
Ich kenne Kesselstadt. Menschen wie du sind aus
Hass und Armut und Verlust geknetet worden wie feuchter Ton.«
Damit war der seltsame Moorelf hinter der Tür verschwunden. Scapa saß allein in dem fremden Bett. Draußen heulte der Wind.
Die Geschichte von Maferis, dem Seher des Königs, von Maferis, dem Geliebten der Xanye, und schließ-
lich von Maferis, dem Verstoßenen, war eine traurige. Bei den Moorelfen war er schon früh ein verehrter Mann gewesen. Denn was Maferis auszeichnete, war eine Intelligenz, die die der alten Seher bei weitem übertraf. Beobachtete er einen beliebigen Elf, konnte er bis ins kleinste Detail erklären, was für ei-ne Persönlichkeit dieser hatte; welche Ängste, welche Wünsche, welche Gedanken. Und daraus ließ sich für Maferis leicht schließen, wie seine Vergangenheit ausgesehen haben mochte. Er konnte regelrecht einen seelischen Steckbrief verfassen – und das alles nur durch Berechnung. Nur durch Beobachten, Kombinieren und Bewerten von Gesten, Tonfall, Blick. Seine Weissagungen waren eine Mathematik, die auf logischen Regeln basierte. Was Maferis aber nicht besaß, war ein übersinnliches Gespür. Er hatte weder prophetische Träume, noch konnte er aus Op-fergaben lesen oder dem Wind ein geheimnisvolles Flüstern abhören, so wie man es von einem Elfendru-iden eigentlich erwartete. Maferis’ Klugheit ruhte allein auf den kühlen Säulen des Verstandes.
Mit kühlem Verstand erlernte Maferis die Fähig-
keiten der Druiden und Seher, ohne je etwas zu sehen, noch die Geister des Übersinnlichen zu spüren.
Trotzdem galt er bald als der größte Weise der Moorelfen, und er kam zum König, dem Träger der Krone Elrysjar, um ihm sein Wissen zu Diensten zu stellen. Bald bildete sich eine so innige Freundschaft zwischen den jungen Männern, dass der König jedem Rat des Druiden folgte.
Und Maferis, der zwar kein schöner, aber auch kein hässlicher Mann war, konnte mithilfe seines neu erworbenen Standes sogar eine Frau umgarnen: Xanye, die Schwester des Königs, die ihm für seine Ehrerbietung alle Bewunderung zurückgab, derer sie fähig war. Sie war die erste und letzte Elfe, der Maferis seine geheimen Ziele, seinen wahren Ehrgeiz anvertraute.
Denn was er wirklich wollte, das war etwas, das einem Elfenherz vollkommen fremd erschien – etwas, das viel eher einem Menschenverstand ent-sprungen wäre. Was Maferis wollte, das war die Krone Elrysjar. Und das ganze Elfenvolk, das ihm –
ihm allein – huldigte. Je öfter er die schwarze Steinkrone an der Stirn seines
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