Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
die beiden Jungen. Nur die Elfen blieben fast
unberührt; ihr Blut schien den Stechfliegen nicht zu schmecken.
Allmählich senkte sich eine bedrückende Hitze über sie. Doch die Wärme kam nicht von der Sonne, die hinter Nebeln und Wolken blieb und sich nur selten zeigte, kalkweiß und verschwommen. Die Luft selbst war warm und feucht und so schwer zu atmen wie Dunst. Sie legte sich über die Gefährten wie eine zweite, klebrige Haut. Ein träges Elendsgefühl überkam sie, je länger sie auf dem Fluss dahintrieben.
Nach einer Weile hörten sie auf, nach den Stechfliegen zu schlagen, und zogen sich trotz der Hitze einfach die Umhänge enger um den Körper.
Sie wechselten sich mit dem Staken häufig ab, denn keiner konnte es länger als ein paar Minuten.
Schließlich waren Erijel und Kaveh an der Reihe.
Die anderen saßen reglos auf dem Floßboden, die Mäntel über den Kopf gezogen und die Knie an der Brust. Selbst Brunos Wachsamkeit hatte der fiebrige Sumpfnebel getrübt: Die Schnauze auf beide Vorderbeine gestützt, lag er neben Kaveh und rang sich nur hin und wieder zu einem matten Grunzen durch.
Dann hob der Keiler plötzlich den Kopf. Seine haarigen Ohren zitterten. Kaveh starrte zu Bruno herab und dann in die Richtung, in die die schnüf-felnde Schweineschnauze zeigte. Wegen des Modergeruchs, der sich wie ein feuchtes Leichentuch über die Marschen ausbreitete, hatte Bruno sie erst gerochen, als sie sich schon vor ihnen aus dem Dunst lösten: die Toten.
Irgendwo in den milchigen Dunstschwaden rief eine Eule. Die Wellen platschten unter dem Floß.
Kaveh hob sein Ruder aus dem Wasser, erst Rinnsale, dann Tropfen rollten vom Holz. Am nebligen Ufer erschienen die Pfähle wie große schwarze Schilfrohre. Sie zogen sich in einer langen Reihe am Wasser entlang und dahinter erstreckte sich ein regelrechtes Feld. Es war ein Friedhof, nur dass es keine Grabsteine gab, sondern Holzlanzen mit Stricken daran, und dass keine Namensschilder an den Pfählen hingen, sondern die Toten selbst.
Kaveh ließ das Ruder mit einem dumpfen Ge-räusch zu Boden fallen. Die Gefährten blickten nieder. Nur Kaveh sah nicht weg. Er sah sie sich genau an: die Gesichter der Verräter am König von Korr, oder das, was davon übrig geblieben war. Sie zogen langsam an ihnen vorbei. Und Kaveh zollte jedem von ihnen einen anerkennenden Blick, auch wenn ihn das den Schlaf so mancher Nacht kosten würde.
Ein Holzschild trat aus dem Dunst, das vor dem Leichenfeld in den Boden eingelassen war. In Elfen-und Menschenschrift stand dort eingeritzt: In Ewigkeit verdammt, die Seelen der Königsverräter.
Kaveh zog seinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf. Den Toten konnte er nicht mehr helfen. Aber er konnte einen Pfeil in das Schild schießen, er konnte ihnen diese letzte Ehre erweisen, und jeder, der hierher kam, Gefangener oder Grauer Krieger, würde sehen, dass es Widerstand gab.
»Kaveh!« Erijel kam einen Schritt auf ihn zu.
»Schieß nicht! Die Grauen Krieger werden den Pfeil sehen und dann haben sie unsere Fährte.«
Kaveh drehte sich nicht zu seinem Cousin um, doch er senkte zögernd den Bogen.
»Bitte, Kaveh, es ist gefährlich«, beschwor ihn Erijel.
Mehrere Augenblicke verstrichen. Dann spannte Kaveh die Bogensehne bis zum Ohr. Sein Pfeil schnellte durch die Luft, traf das Schild und bohrte sich direkt in das Wort verdammt.
Erijels Herz zog sich zusammen. Ihm war, als durchbohre Kavehs Pfeil nicht nur das Schild, sondern auch ihn … Ein schwerer Schatten schien mit diesem Schuss über ihn zu fallen.
»Mit Gefahr kann ich leben«, sagte Kaveh. »Tatenlos nicht.«
Und er legte einen neuen Pfeil auf, zielte auf das Schild, traf die Worte; er schoss fünf Pfeile ab, bis die Inschrift nicht mehr zu lesen war.
Mit zusammengebissenen Zähnen ergriff er sein Ruder und tauchte es in das Sumpfwasser, stieß sich ab, kraftvoller und schneller als zuvor. Nach ein paar Ruderstößen hatten sich die Nebelvorhänge wieder geschlossen und die Gehängten waren hinter ihnen verschwunden.
In der Dunkelheit
Die Nacht hielt lärmend und krächzend Einzug in die Marschen von Korr. Das wenige Leben in den Sümp-
fen schien sich mit der hereinbrechenden Dunkelheit aufzuraffen, um wenigstens einmal am Tag die Gra-besstille mit einem Orchester von Geräuschen zu durchbrechen. Frösche quakten, es blubberte, gurgel-te und platschte, Äste knackten, als verschlafene Eulen sich zum Nachthimmel erhoben, und das Flattern der Fledermäuse
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