Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
vielleicht auf die Grauen Krieger; vielleicht darauf, einfach einzuschlafen und die Nacht in einem langen Atemzug hinter sich zu bringen.
Was kam, war der Schlaf. Nill erwachte erst, als die Sonne hinter den dichten Sumpfnebeln schwamm. Langsam stützte sie sich vom Boden auf und wischte sich Erde und Steinchen von der Wange.
Sie sah sich um. Neben ihr lag Fesco mit weit ausge-breiteten Armen, etwas weiter ab hatte sich Scapa zu einem schwarzen Bündel eingerollt. Von Kaveh, Mareju und Arjas war noch immer keine Spur.
Nill stand auf und trat in die Türöffnung. Das Dorf
lag wie die Gebeine eines Riesen vor ihr. Kahle Mauern stachen aus der Erde. Die niedergestürzten Strohdächer lagen blank da, um im Wind zu verwe-sen wie gelbe Knochen. Nichts Lebendes, weder Kaveh noch die Grauen Krieger waren zu entdecken.
Eine Weile blieb Nill im Türrahmen stehen und starrte über die zerrütteten Häuser hinweg. Plötzlich stand Scapa hinter ihr. Er hatte seinen Proviant geschultert und war aufbruchbereit.
»Komm, Fesco«, sagte er und drehte sich zu seinem Freund um. »Wir gehen.«
Fesco setzte sich schlaftrunken auf und packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen.
»Warte, Moment mal! Wir können doch nicht einfach gehen! Kaveh und Arjas und Mareju sind noch da draußen und kommen –«
»– wahrscheinlich nie wieder.« Scapa drängte sich an Nill vorbei und verließ das Haus.
Ihre Nasenflügel bebten. Sie fuhr herum und stapfte ihm hinterher. »Scapa«, rief sie. »Bleib stehen!«
Er hörte nicht. Sie packte ihn an der Schulter und zog ihn herum.
Seine Augen blitzen. »Was?«, zischte er. »Worauf soll ich warten? Dass die Grauen Krieger mich ab-murksen wie Erijel?«
Nill öffnete den Mund, um das Verletzendste, Gemeinste auszusprechen, das ihr gerade in den Sinn kam – aber bevor sie auch nur einen Ton von sich geben konnte, pfiff etwas durch die Luft. Eine Pfeilsalve bohrte sich rings um sie in die Erde.
Fesco ließ sich bäuchlings auf den Boden fallen.
Nill und Scapa rissen sich gegenseitig von den Fü-
ßen. Keinen Atemzug später krochen sie durch das hohe Gras und den Schlamm, das Zischen der Pfeile im Nacken. Die Hütten blieben hinter ihnen zurück.
Erst Scapa, dann Nill und schließlich Fesco fielen in den Graben, der das Dorf einst mit Wasser versorgt hatte. Brackige Wellen und glitschiges Pflanzenge-strüpp schwappten ihnen entgegen. Sie krochen durch den Graben und kletterten am anderen Ufer wieder hoch. Hier empfing sie das mannshohe Schilfgras der Marschen. Geduckt rannten sie los.
Das Pfeilsirren wurde ferner und bald umgaben sie nur noch ihr hastiger Atem und das Rauschen der Gräser.
An den Wurzeln einer knotigen Weide, die die Hälfte ihrer Blätter bereits verloren hatte, kletterten die drei einen Abhang hinab und kamen zum Stehen.
Scapa rang nach Luft und sank gegen die Wurzelarme.
Noch immer keuchend betastete Fesco sein Wams und seinen Umhang – und wurde kreidebleich. »Krö-
te!«, schrie er. »Wo, sie – ich habe sie verloren!«
Scapas Blick glitt über ihn hinweg. Tatsächlich: Von Kröte fehlte jede Spur.
»Ich muss – sie suchen«, rief Fesco, kletterte in wenigen Zügen die Wurzeln hinauf und stolperte davon.
»Fesco!« Scapa ging mehrere Schritte rückwärts und stellte sich auf die Zehenspitzen, aber Fesco war bereits verschwunden. »Verflucht, verflucht !«
Mit klammen Fingern strich er sich die Haare aus der Stirn und sein Blick traf Nills. In ihren Augen lag mehr Vorwurf als Scapas Stolz vertrug. »Jetzt … jetzt sehen wir Kaveh und die Ritter vielleicht nie wieder.«
Scapas Lippen wurden schmal. Er runzelte heraus-fordernd die Stirn, ganz so, als wolle er Nill fragen, was daran so schlimm sei.
»Ist dir eigentlich alles egal?«, rief sie. »Ist dir denn überhaupt etwas wichtig in der Welt?!«
Merkte er nicht, wie finster er jemanden anstarren konnte? Oder tat er es mit Absicht?
»Was mir wichtig ist, habe ich bereits verloren.«
Ein Stich fuhr Nill ins Herz. Und plötzlich übermannte sie der Zorn. »Das ist alles, was du sagen kannst?« In ihr brodelte die Wut. Wut, weil Scapa so ein Mistkerl war, und Wut, weil sie es nicht hatte einsehen wollen. »Du – du lebst ja gar nicht! Du klammerst dich an die Vergangenheit und hast vergessen, dass die Zeit nicht anhält. Sie hält nicht an, egal, was man verliert!«
Scapas Augen flackerten. »Was sagst du da?« Es klang wie die Drohung eines Verbrechers. Denn das war er: der Gebieter einer finsteren
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