Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
Wirklichkeit, das wusste Ileofres, loderte in Norfed dasselbe Verlangen nach Macht wie in seinem jüngeren Sohn. Norfed verließ Dhrana und ihn doch nur, um sich Korr und seinem mächtigeren Bruder anzuschließen! Dennoch ließ Ileofres seinen Sohn ziehen. Seitdem waren vier Jahre verstrichen.
Es gab keine Nachricht von ihnen. Kein Zeichen.
Bis jetzt.
Der schmale Weg, der sich zuvor durch die Felder geschlängelt hatte, wurde zu einer breiteren Pflasterstraße. Die Gefährten erreichten das Dorf, noch bevor die letzten Lichter des Tages im Westen schwanden. Die Hütten scharten sich um die Burg des Kö-
nigs und rauchten aus schiefen Kaminen. Der Lärm lachender und schreiender Kinder lag in der Luft, als die Gefährten die Straße entlangritten. Ein junger Mann mit einem Ochsenkarren wich ihnen mit stau-nenden Augen aus, und eine Gruppe von Jungen und Mädchen, die mit beladenen Weidenkörben von den Obstbäumen heimkehrten, tuschelte aufgeregt.
Kurz bevor die Straße aus dem Dorf führte, machte sie eine elegante Kurve, so als solle jeder Besucher die Burg noch einmal von beiden Seiten betrachten.
Die Burg war ein schlichter, aber massiver Bau aus dunklem Stein. Aus einem kleinen Wachturm drang das Läuten einer Glocke. Direkt vor dem runden Tor, das kurz davor war, geschlossen zu werden, entzündeten mehrere Soldaten Fackeln für die Nacht. Als
sie Nill, Kaveh, die Ritter und Bruno entdeckten, hielten sie inne und stellten sich vor dem Tor zusammen.
»Wer seid ihr? Was führt euch hierher?«, rief einer der Soldaten ihnen zu.
»Wir sind Boten aus Korr!«, rief Kaveh, und nach kurzem Zögern schob er sich schließlich die Kapuze zurück. Das beruhigte aber nicht das Misstrauen der Soldaten. Als sie erkannten, dass Kaveh ein Elf war, nahmen manche von ihnen ihre Lanzen fester in die Hand und starrten ihn mit unverhohlenem Argwohn an. »Wir sind Boten vom König der Moorelfen. Wir bitten um Erlaubnis, dem König von Dhrana unsere Nachricht zu überbringen.«
Die Soldaten tauschten Blicke. Erstauntes Gemurmel erhob sich zwischen ihnen; sie senkten die Waffen und traten zur Seite.
»Tretet ein!«
Die Gefährten ritten durch das Burgtor und kamen in einen engen Hof. Wagen voller Stroh, Gänse und Hühner und herumstehende Soldaten füllten den Platz. Von irgendwo ertönte das Schlagen eines Hammers. Ein junger Stallknecht führte zwei Pflugpferde hinter sich her.
»Stallbursche!«, rief ein Soldat, der neben die Ge-fährten getreten war, und winkte dem Jungen. »Bring die Pferde in den Stall und versorge sie.«
Der Knecht nickte und führte eilig die beiden Pflugpferde weg, um einen Augenblick später zu-rückzukehren.
Nill und die Elfen stiegen von den Pferden und sahen zu, wie der Stallknecht sie fortführte.
»Was ist mit dem Wildschwein?«, fragte der Soldat verwirrt und sah auf Bruno herab. »Soll man ihn für das Abendessen zubereiten?«
»Nein!«, sagte Kaveh entrüstet – und fügte ruhiger hinzu: »Nein. Wir kümmern uns um das Wildschwein. Danke.«
Der Soldat maß ihn mit einem misstrauischen Blick, dann wies er zu einer breiten Treppe und er-klärte: »Ich bringe euch zum König. Folgt mir.«
Der Soldat führte sie die breite Treppe hinauf und durch eine dunkle Steinhalle. Eine Schar Wäscherinnen kreuzte laut schnatternd ihren Weg. Sie bogen in einen schmalen, runden Korridor ein, der vor einer hölzernen Doppeltür endete.
»Ich werde euch anmelden. Wartet hier«, sagte der Soldat und verschwand hinter der Tür.
Die Gefährten mussten sich nicht lange gedulden.
Trotzdem kam es Nill wie eine Ewigkeit vor –
schweigend standen sie beieinander und warfen sich unsichere Blicke zu, nur Kaveh stierte eisern die Tür an.
Dann kam der Soldat zurück. Er trat respektvoll zur Seite und erklärte mit einer leichten Verneigung:
»Ihr dürft eintreten.«
Kaveh betrat als Erster die kleine Halle, zu der drei Stufen hinaufführten. Über einem großen Kaminfeuer briet Ochsenfleisch. Der Geruch von zer-schmolzenem Fett mischte sich in den Rauch. Runde
Türen aus schwerem Holz an den Wänden führten in unbekannte Kammern. In der Mitte der Halle stand eine Holztafel, an der der König von Dhrana saß.
Er war alt. Seinen Haaren sah man noch an, dass sie einmal so flammend gewesen waren wie das Feuer im Kamin, doch heute hatten die gelockten Strähnen an Kopf und Bart die Farbe weißgrauer Asche.
Sein Gesicht war ein Furchenfeld, aus dem die Nase scharf hervorstach. Über die Augen hatte sich
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