Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
dass er noch da war. »Ja«, erwiderte er nachdenklich. »Man wird sehen. Man wird sehen …«
Als die Sterne über Dhranas Feldern glühten, strich König Ileofres durch die verlassenen Korridore seiner Burg. Er fühlte sich wie ein Schlafwandler. Er war ein Schatten, der in den Schatten seines eigenen Reiches dahinglitt. Was sollte er von den Elfen halten, die ihm heute von einem Krieg erzählt hatten gegen seine eigenen Söhne? Seine Söhne … Sie beherrschten gemeinsam Korr, die Königsbrüder. Sie waren es, die sich die Welt unterwerfen würden, sein Fleisch und Blut! Sie waren es, die in den tiefen Sümpfen herrschten, das wusste Ileofres ganz genau. Er lieferte Korr seit drei Jahren Holz aus den Dunklen Wäldern.
Durch Holzhandel war Dhrana zu Wohlstand ge-
kommen – und heute belieferte das Königreich einzig und allein die Brüder von Korr. Was machte es da schon, dass die Elfen etwas anderes erzählten? Ein Krieg sollte bevorstehen? Das wusste Ileofres! Er war schließlich ein Eingeweihter, ein Verbündeter.
Er hatte sich mit seinen Söhnen verschworen, ohne ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. Das war unnötig. Er wusste von ihren Plänen, so wie ein aufmerksamer Vater alle Geheimnisse seiner Söhne kennt. Er hatte sie mit allem Holz beliefert, das sie brauchten für den Krieg, der ihnen die Welt untenan machen würde!
»Ich weiß Bescheid, ich weiß genau Bescheid«, murmelte der König vor sich hin, während er lautlos durch die schmalen Korridore wanderte. »Ich bin ein-geweiht! Hah! Ich bin ihr Vater! Ich weiß es genau …«
Es musste ein Zufall sein, der Ileofres genau vor die Tür der Elfen geführt hatte. Oder Schicksal … Er legte die knochige Hand auf die Türklinke. Er trat ein, ohne dem Holz ein verräterisches Knarren oder Ächzen zu entlocken. Er war ein Schatten …
Auf vier Strohpritschen lagen die Elfen und schliefen. Ihre Umrisse zeichneten sich im blassen Mondlicht ab, das durch die Fenster hereinsickerte. Der Kö-
nig ging an ihnen vorüber, bis er das Mädchen erreichte. Ileofres wusste, dass das Mädchen das magische Messer hatte, von dem der Elf mit den langen Zöpfen gesprochen hatte. Jeder Blick, jede Bewegung von ihr hatten es verraten, dass sie ein Geheimnis barg.
»Ich muss das Messer zerstören«, hauchte der Kö-
nig. »Ich muss es den Königsbrüdern von Korr überbringen!«
Doch als er die Hand nach dem Mädchen ausstreckte, die ihre Rocktasche fest umklammert hielt, überfiel den König eine neue Vision: Er würde mit dem Messer nach Korr aufbrechen. Und die Könige töten. Ja, er würde seine missratenen Söhne töten!
Und noch eine Vorstellung durchfuhr den König, einen kurzen Augenblick nur: Er würde seinen jüngsten Sohn, den Verräter, mit dem magischen Messer richten, denn der hatte gewiss seinen älteren Bruder Norfed getötet. Ileofres wusste es plötzlich. Nicht beide Brüder herrschten in Korr, der jüngere hatte den älteren töten lassen! Darum war nie eine Nachricht von ihm gekommen! Darum war er nie zurückgekehrt! Ifredes, der Verräter, wartete in den Sümpfen wie eine fette Spinne auf seine eigene Familie, sein eigen Fleisch und Blut, um Bruder und Vater, sobald sie sich in der Hoffnung auf Versöhnung nä-
herten, zu vergiften! Er, König Ileofres, würde seine eigene abscheuliche Brut zerstören, wenn er das magische Messer hatte. Ein Keuchen kam ihm über die Lippen. Dann packte er fest Nills Handgelenk, riss es zurück und griff in ihre Rocktasche.
Nill schrie. Im Dunklen erkannte sie nicht gleich etwas; dann trat das Gesicht des Königs aus der Schwärze des Zimmers. In seinen Augen glühte der Wahnsinn. Röchelnd griff er nach dem Steindorn.
Nill wandte sich herum und trat mit beiden Füßen nach ihm. Er zerrte an ihrem Arm.
»Lass sie los!« Es war Kavehs Stimme. »Lass sie los!«
Ein dumpfer Schlag war zu hören, dann sackte der König reglos zu Boden. Gleichzeitig entfuhr Kaveh ein unterdrückter Schrei: Nills Tritt hatte ihn vor die Brust getroffen.
»Kaveh! Verflucht, ich – oh nein, alles in Ordnung?« Entsetzt krabbelte sie aus der Decke und fasste nach Kaveh.
Er rieb sich die Brust und versuchte gleichmäßig zu atmen. »Alles in Ordnung. Klar«, hüstelte er.
»Hier …« Er hielt Nill den Steindorn entgegen.
Sie steckte ihn eilig in ihre Rocktasche und trat einen Schritt zurück, um den reglosen König zu betrachten. Er lag zusammengesunken auf dem Boden.
Wo Kavehs Schlag ihn getroffen hatte, lief ihm Blut aus
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